11. Sonntag nach Trinitatis 2016: Das evangelische Christentum und die Religionen (Epheser 2,4-10)

Von Pfarrer Marvin Lange

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus
und die Liebe Gottes
und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes
sei mit euch allen.


Der Predigttext für den heutigen Sonntag steht im Epheserbrief im 2. Kapitel, die Verse 4 bis 10. Nach eigener Übersetzung und verschiedenen Textvergleichen lese ich die Variante der BasisBibel, die in diesem Fall nicht nur leichter zu verstehen, sondern auch wesentlich genauer aus dem altgriechischen überträgt:


4Aber Gott ist reich an Barmherzigkeit.
Er hat uns seine ganze Liebe geschenkt
5und uns zusammen mit Christus
lebendig gemacht.
Das tat er,
obwohl wir doch tot waren
aufgrund unserer Übertretungen.
– Aus reiner Gnade seid ihr gerettet! –
6Er hat uns mit Christus auferweckt
und zusammen mit ihm
einen Platz im Himmel gegeben.
Denn wir gehören zu Christus Jesus!
7So wollte Gott für alle Zukunft zeigen,
wie unendlich reich seine Gnade ist:
die Güte, die er uns erweist,
weil wir zu Christus Jesus gehören.
8Denn aus Gnade seid ihr gerettet – 
durch den Glauben.
Das verdankt ihr nicht eurer eigenen Kraft,
sondern es ist Gottes Geschenk.
9Er gibt es unabhängig von irgendwelchen Taten,
damit niemand darauf stolz sein kann.
10Denn wir sind Gottes Werk.
Durch unsere Zugehörigkeit zu Christus Jesus
hat er uns so geschaffen,
dass wir nun das Gute tun.
Gott selbst hat es schon für uns bereitgestellt,
damit wir unser Leben entsprechend führen können.

Liebe Gemeinde, 
im Glaubenskurs mit den Iranern haben wir an einem Nachmittag eine wahre Sternstunde gehabt. Es ging um die Frage, worin nun eigentlich der Unterschied im Glauben zwischen Christen und den Angehörigen anderer Religionen liege.
Glaube sei doch Glaube, und ob ich meinen Gott nun Allah nenne oder Jesus oder HaSchem oder wie auch immer – es laufe doch auf das Gleiche hinaus.
(Das ist übrigens eine Aussage, die ich von religionslosen und kirchenfernen Menschen immer wieder höre und die mir vor Augen führen, dass es mit der religiösen Bildung in unserem Land nicht allzuweit her ist).

Wenn wir uns der Frage nach dem Glauben nähern, sollten wir uns dem Verhältnis Gott und Mensch nähern.
In allen Religionen, die mir bekannt sind, ist eines gleich:
Gott ist da oben, der Mensch ist ganz unten.
Dann gibt die Religion vor, wie ein Mensch zu leben hat. Damit verbunden ist der Winsch, dass man sich irgendwie bei Gott beliebt machen könne. Oder seine Aufmerksamkeit bekäme. Oder Wünsche erfüllt bekommt. Oder nach dem Tod in den Himmel oder ins Paradies gelangt.
Allen (mir bekannten) Religionen ist es gemeinsam, dass man diese Regeln befolgen solle – und dann klappt´s auch mit dem Himmel, dann bekommt man ein prima Gottesverhältnis.
Ich zeichne es euch mal hier auf das Flipchart:

Schaubild 1
 

Auf diese Art und Weise wird allzu oft auch das Christentum verstanden.
Gott oben, Mensch unten: gibt der Welt die 10 Gebote und das Doppelgebot der Liebe, sendet Jesus, dass man sein Herz an ihn hängt. 
Wer das tut, kommt in den Himmel, wer das nicht tut, von dem wissen diese Theologen nicht so recht, ob er nun in die Hölle kommt, oder einfach verschwindet oder was auch immer.

All denen, die das Christentum so sehen, sei nun unser Predigttext zur näheren Lektüre empfohlen. (Wir wissen heute: der Text stammt sehr wahrscheinlich nicht aus der Feder des Paulus, sondern wohl aus seinem Schülerkreis, die sich darum bemühte, die Theologie des Paulus weiter auszufeilen).

Jedenfalls geht der Text geht gleich ganz stark los: 
4Aber Gott ist reich an Barmherzigkeit.
Er hat uns seine ganze Liebe geschenkt.

Gott hat uns seine ganze Liebe geschenkt: Wir dürfen das wörtlich nehmen. Und wenn wir den Begriff „Liebe“ direkt verstehen, dann ist das doch wohl etwas mehr, als dass uns Gott gute Regeln für unser Zusammenleben gibt. 
Keine Liebesbeziehung hält durch, wenn wir die Liebe vor allem durch Regeln definieren. 
Keine Liebesbeziehung hält durch, wenn es immer nur ein „Oben-Unten-Verhältnis“ ist! Daran zerbräche jede Freundschaft und jede Ehe. Auf Augenhöhe begegnen sich Liebende!

Dann wird er in Vers 5 noch viel deutlicher:
Aus reiner Gnade seid ihr gerettet.“

Gnade, das ist auch so ein großes Wort, ähnlich wie die Liebe. 
Gnade, das ist etwas, das man dann doch nur aus erhöhter Position jemandem gewähren kann. 
Das kommt unverdient.
Etwa konnte sie in früheren Zeiten der König seinen Untertanen erweisen. 
Oder in der heutigen Zeit: eine Amnestie für Straftäter.
Die Aufnahme von Flüchtlingen in einem sicheren Land entgegen der Gesetzeslage.
Das ist Gnade.

Beim Wort Gnade wird Gott dann doch ganz oben und der Mensch – wie in Schaubild 1 – ganz unten gedacht.
Aber in dem Zusammenhang kommt nichts mit dem Abmühen des Menschen. 
Wenn es um Gnade geht, dann werden Regeln sogar völlig durchbrochen.

Und Paulus führt das aus, im 6. Vers, wenn er feststellt:
6Er hat uns mit Christus auferweckt
und zusammen mit ihm
einen Platz im Himmel gegeben.
Denn wir gehören zu Christus Jesus!

Also in aller Deutlichkeit: 
Der Platz im Himmel ist uns gesichert: Unverdient, aus Gnade. 
Mit Gottes Liebe.
Weil Gott selber zu uns gekommen ist als Jesus Christus. 
Weil Gott das Unten und das Oben wegmacht. Er selber ist Mensch geworden.
Er ist es, der sich für jeden einzelnen Menschen abmüht!
Da müssen wir wohl mal ein zweites Schaubild anfertigen: SCHAUBILD 2
 

Ja aber wie ist das denn mit dem eigenen Tun und Wollen?
Wie ist das denn nun mit den Regeln?


Der Epheserbrief ist ganz deutlich: 
Im Vers 8 und Vers 9 wiederholt er es: 

8Denn aus Gnade seid ihr gerettet – 
durch den Glauben.
Das verdankt ihr nicht eurer eigenen Kraft,
sondern es ist Gottes Geschenk.

Also: Die Grenze, sich selber Gott anzunähern (im Schaubild ist das die waagrechte Linie), die bleibt. 
Und sie kann von uns Menschen nicht durchbrochen werden. Und das ist auch gar nicht nötig, weil Gott sie eben durchbrochen hat.
Ich stelle das immer wieder gern fest: Christentum, insbesondere in seiner evangelischen Gestalt, das ist Religion für Faule. 
Wir können für unser Seelenheil, dass Gott uns annimmt, dass Gott uns gegenüber gnädig ist, dass wir in den Himmel kommen, nichts, aber auch rein gar nichts tun.

Und jetzt kommt das Dilemma des 21. Jahrhunderts: 
Paulus hat noch damit gerungen zu verstehen, wie man Gott als Jesus Christus erkennen und begreifen kann. 
Und hat mit seinen Schülern daraus dann seine Theologie entwickelt, aus der hervorgeht, das Christus uns alles schenkt.
Luther hat damit gerungen, wie man einen gnädigen Gott erhalten kann. Für den hatte erstmal Schaubild 1 gegolten!
Schaubild 2 ist aus dem Studium bei Paulus entstanden.

Und wir heute sind in einer seltsamen Situation: 
Wir können nichts tun für das Himmelreich (laut Paulus) und wir werden von Jesus unbedingt anerkannt (laut Luther):
Das führt dahin, dass die Leute sagen: „Gott, na und?“

Das ist dann die Vorstufe zu: An Gott glaube ich nicht.

„Gott, na und? Der hat mich ja doch nur lieb und alles andere wissen wir nicht.“

Das ist genau die Haltung, die viele unserer Mitmenschen momentan teilen. 
Die Angst vor dem Richtergott ist komplett verschwunden. 
Gut so!
Aber: 
Die Erkenntnis, dass Gott ein unbedingt liebender ist, führt bei vielen Menschen dazu, dass sie ihn einfach ignorieren oder sogar ablehnen.
Anders gesagt: Den Leuten ist es völlig egal, ob sie in den Himmel kommen oder nicht, weil sie entweder meinen, dass nach dem Tode ohnehin alles aus ist – oder aber Gott sie dann bedingungslos schon rein lassen wird.

Oder ist das doch nicht ganz so?
Der Deutschrapper Marteria thematisiert das in seinem Lied „OMG“  = „O mein Gott dieser Himmel, wie komm ich da bloß rein.“ 
Immerhin ist das eines der Lieblingslieder der jüngeren Generation, 37 Wochen lang belegte es 2014 Platz eins der deutschen Charts. 
Sein Lied endet ernüchternd: Auf die Frage, wie er in den Himmel kommen könnte, antwortet er am Ende selbst: 
„Egal, ich liege in ihren Armen. 
Ich lieg in ihren Armen. (Armen!)
Oh mein Gott, bin im Himmel,
sie macht mich einfach nur heeeeeiß.“ 

Keine Antwort im Song, sondern einfach nur Gleichgültigkeit, da man mit der Liebsten ein Schäferstündchen verbringt.

Oder die Leute, die mir manchmal begegnen, und vom Himmelslohn reden. Für die scheint mir, wenn das nicht eine bloße Floskel ist, Gott doch sehr wohl noch eine Realität zu sein.

Das ist so schade, weil die Realität Gottes dieser Leute eher ins Schaubild 1 passt. 
Für Evangelische ist das nicht wirklich denkbar: 
Erarbeiteter Himmelslohn.
Den hat Jesus doch schon für uns besorgt!

Aber das ist ohnehin die Minderheit. 
Die Mehrheit der Leute hat eher die Gleichgültigkeit Gott gegenüber. 
So wie vor einiger Zeit mir mal ein Konfirmand begegnete und auf die Aussage, dass man als Christ einen Platz im Himmel hat, nur antwortete: „Ja und?“

Liebe Gemeinde,
die Folge des evangelischen Christentums ist, dass sich ein Teil der vorher noch gemäß Schaubild 1 Gläubigen von Gott verabschiedet. 
Für Schaubild 2 scheinen mir die meisten Menschen keine Anwendung zu haben. Es lässt sie kalt zurück. Weckt kein Interesse.

Dabei ist die Theologie aus Schaubild 2 doch so unendlich viel tiefergehend: 
Nicht wir kleinen Menschen sind Herren des Geschehens, sondern der ewige Gott macht sich uns gleich. 
Er kommt zu uns!
Und er schenkt uns das ewige Leben.
Und er erlaubt uns, unser Leben in Freiheit zu leben ohne uns irgendwelche Knüppel zwischen die Beine zu werfen.
Ja, ihr habt richtig gehört: Knüppel! Die Regeln, die manche meinen zu brauchen, das sind „irgendwelche Moralvorstellungen aus längst vergangenen Jahrhunderten. Moral ist nichts, was bleibt. Moral wendet das Mäntelchen in den Wind des gesellschaftlichen Geschmacks. Das ist keine Größe, an der ich mich abarbeiten kann.“ (WLP 6 2016,234)
Die Regeln des Zusammenlebens müssen von jeder Generation und immer wieder neu durchdacht und festgelegt werden. Aber dann doch wohl auch ohne ein ewig festgezurrtes Gesetz Gottes!

Andererseits gibt es sie ja doch: die Moral. Und auch eine durchaus christlich zu beschreibende Moral gibt es! 

Und die Leute von der Kirche, das kann man überall verfolgen, die stellen doch ständig irgendwelche moralischen Forderungen!
Woran liegt das? 
Entweder ist derjenige, der da fordert, noch im Schaubild 1 verhaftet (den Eindruck habe ich im übrigen nicht selten) – oder aber er tut einfach nur das, was der Paulusschüler selber in seinem letzten Vers 10 sagt und woraus sich wiederum eine Menge herleiten lässt: 

10Denn wir sind Gottes Werk.
Durch unsere Zugehörigkeit zu Christus Jesus
hat er uns so geschaffen,
dass wir nun das Gute tun.
Gott selbst hat es schon für uns bereitgestellt,
damit wir unser Leben entsprechend führen können.

Aus dem heraus, was Gott da für uns getan hat und tut, entsteht der Glaube. 
Plötzlich ist er da.
Glaube ist die Beziehung Gottes zu mir, in die ich nur überwältigt oder begeistert einstimmen kann.
Und dann passiert etwas, das die allgemeine Vernunft übersteigt:
Aus dem Glauben heraus richte ich automatisch mein Leben anders aus. 
Der allmächtige Gott liebt mich? 
Wow, meine Minderwertigkeitsgefühle sind wie weggewaschen! Mich Erdenwurm liebt derjenige, der Himmel und Erde gemacht hat! 
Und dieser Jesus nimmt mich an? 
Mit meinen Ecken und Kanten, mit meinen Fehlern, mit meiner eigenen Gottvergessenheit?
Wow, da kann ich ja ganz anders, viel entspannter ins Leben gehen. 
Auch wenn mich der Chef anmotzt, auch wenn meine Ehe auf der Kippe steht oder sogar gescheitert ist: Da kann ich guten Gewissens immer weiter machen und gehen. 
Und ich kann das weitergeben. 
Ich kann anderen Leuten davon erzählen. Und noch besser: 
Ich kann mich danach verhalten.

Plötzlich ergibt der liebende Gott (Schaubild 2) Sinn für mein Leben: 
Viel freier, ja erlöster kann ich mein Leben leben als vorher.
Oder umgekehrt, mit Martin Luther aus seiner Epheserbriefauslegung von vor 500 Jahren gesprochen:
„Derhalben ist es ebenso ungereimt geredet, wenn sie sagen: der Gerechte muss gute Werke tun – wie wenn sie sagen: Die Sonne muss leuchten. Der Birnbaum muss gute Früchte tragen, Gott soll gute Werke tun, drei und sieben müssen zehn sein; da doch dies alles mit innerlicher Notwendigkeit aus der Sache folgt. Dass ich´s noch klarer sage: Dies alles folgt mit Notwendigkeit von sich aus und aus seiner Natur. (…) Der Gerechte tut von sich aus gute Werke. Die Kreatur tut, was sie tun soll!“ (Luthers Epistelauslegung 3. Epheserbrief, 1973, S. 13.)

Den Iranern, die sich hier haben taufen lassen, unterstelle ich, dass sie das größtenteils gespürt haben. Und deswegen gern hierher kommen.
Ich frage mich aber, wie wir dahin kommen können, dieses Gespür der Mehrheit unseres Volkes zurückzubringen.
Wenn dann doch wohl allein mit Zuversicht: 

Gott selbst hat es schon für uns bereitgestellt,
damit wir unser Leben entsprechend führen können.

Amen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.