Predigt zum Volkstrauertag 2012: Offenbarung 2,8-11: Ein Trostbrief: Ehemalige Kinder des Bonhoefferhauses predigen

Predigt zu Offenbarung 2, 8-11 am Volkstrauertag 2012

im Bonhoeffer-Haus der Evangelischen Kirchengemeinde in Fulda, Ziehers-Nord,

mit Taufe und 40 Jahre nach der Eröffnung des Gemeindehauses

Liebe Gemeinde,

ich habe Ihnen heute einen Trostbrief mitgebracht. Der Seher Johannes schreibt der Gemeinde in der türkischen Stadt Smyrna, dem heutigen Izmir: „Ich kenne dich, ich kenne deine Not und deine Stärke! Fürchte dich nicht! Sei treu, dann wirst du leben!“

Was sagt dieser Brief uns heute, liebe Gemeinde? Heute am Tauftag von Justin Antonyuk, heute am Volkstrauertag?

Schreibe dem Engel der Gemeinde in Smyrna:

Das sagt der Erste und der Letzte, der tot war und ist lebendig geworden:

„Ich kenne deine Bedrängnis und deine Armut! Aber du bist reich! 
Und ich kenne die Lästerung derjenigen, die sich dir gegenüber als jüdisch ausgeben; aber sie sind es nicht! Sie sind eine Versammlung des Satans! 
Fürchte dich nicht! Nicht vor dem, was du erleiden wirst. Siehe der Teufel wird einige von euch ins Gefängnis werfen, damit ihr geprüft werdet und ihr werdet zehn Tage Bedrängnis haben.
Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben!“

Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt!


I

Ein Brief hat eine Anschrift. Dieser hier richtet sich an die Gemeinde in Smyrna. Aber der Seher Johannes schreibt nicht direkt an diese Gemeinde, er schreibt an den Engel der Gemeinde. Wie stelle ich mir den Engel einer Gemeinde vor? Haben auch Sie, liebe Ziehers-Norder, einen solchen Engel?

Ein Engel ist ein Bote. Er (oder ist es vielleicht eher eine Sie?) wechselt hin und her zwischen Himmel und Erde, zwischen Gott und uns. Bringt Nachrichten von Gott zu uns auf die Erde; erzählt Gott von uns. Der Engel achtet auf uns, schützt uns, behütet uns. Deshalb wählen so viele Eltern heute den Taufspruch aus Psalm 91, der auch Justin begleiten soll, den wir gerade getauft haben: „Denn Gott hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten, dass sie dich behüten auf allen deinen wegen, dass sie dich auf Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einen Stein stößt.“

Dass nicht nur jeder und jede Einzelne, sondern auch jede Gemeinde einen Engel hat, heißt: Was hier auf Erden in und mit einer Gemeinde geschieht, ist Gott nicht egal! Ob eine Gemeinde unter Verfolgung leidet, wie viele afrikanische Gemeinden in diesen Tagen; ob eine Gemeinde voll Schwung aufbricht und viele junge Familien anzieht; ob eine Gemeinde sich zurückzieht und das Gefühl hat: es geht ja doch nur alles bergab; all das interessiert und bewegt Gott. Jede Gemeinde mit ihren Stärken und Schwächen hat einen Engel, der sie vor Gott vertritt!

So verschieden wie die Gemeinden, so verschieden sind auch ihre Engel. Die einen brauchen Trost, die anderen Mahnung. Was zeichnet den Engel ihrer Kirchengemeinde hier in Ziehers-Nord aus?

Ich stelle mir vor, die Konfirmandinnen und Konfirmanden malen die Umrisse eines Engels mit großen spitzen Flügeln an die schönen hohen weißen Wände hier im Bonhoeffer-Haus. Und dann sind alle eingeladen, sich und die Gemeinde dort als Federn in die Flügel einzuzeichnen: die Spielkreise und die Tauffamilien, die Jugendlichen, die Konfirmandinnen und Konfirmanden, der Kreativkreis, die Senioren und der Kirchenvorstand, vielleicht auch die anderen Gemeinden drum herum, auch St. Paulus, auch die Schulen, zu denen Verbindungen bestehen.

So entsteht ein bunter Engel, an dem erkennbar wird, was diese Gemeinde auszeichnet. Für mich war und ist der Engel ihrer Gemeinde ein Engel der Gemeinschaft. Und zu so einem Engel passt ein Gemeindehaus. Hier spüren wir sofort: Niemand glaubt für sich allein! Evangelischer Glaube ist geteilter Glaube. Er lebt davon, dass wir uns gegenseitig kennen und stärken. Wer traurig ist, findet einen Menschen, der zuhört. Wer zweifelt, darf klagen und wird ermutigt. In die Jugendgruppe sind die eingeladen, die gut reden können und die, die lieber und gut Tischfußball spielen. Alle sind willkommen.

Ich erinnere mich noch, wie unsicher ich als Jugendlicher war, als wir einmal um das Haus ein Fest mit behinderten Kindern und Jugendlichen und der Lebenshilfe gefeiert haben. Wie wird das gehen? Wie werden wir uns verständigen? Können wir etwas miteinander spielen? Miteinander singen? Abends sind wir erfüllt nach Hause gegangen. Und bis heute begleiten mich das Lachen und die Herzlichkeit dieser Kinder und Jugendlichen. Der Engel der Gemeinde in Ziehers-Nord hat mich gelehrt: Wir gehören zusammen, auch und gerade wenn wir unterschiedlich sind.

II

Jetzt haben wir die Anschrift des Briefes. Was steht denn nun in dem Brief? Ich lese drei Sätze an den Engel der Gemeinde in Ziehers-Nord: „Ich kenne dich!“ „Fürchte dich nicht!“ und „Sei treu, dann wirst du leben!“

III

Ich kenne dich! Das ist der erste Satz von Christus an den Engel der Gemeinde und an uns. Christus sieht uns. Er achtet auf uns. Er schätzt uns. Wir sind ihm lieb!

Ich kenne deine Bedrängnis und deine Armut, sagt er. Vieles ist schwer. Für einzelne von uns: Krank sein, Abschied nehmen müssen. Im Beruf nicht die Anerkennung finden, die ich mir gewünscht habe. Angst haben, den Arbeitsplatz zu verlieren. In meiner Familie scheitern. Aber auch als Gemeinde gibt es das: da kommt eine Gruppe an ihr Ende oder es sind nicht mehr genug Menschen da, um einen eigenen Chor zu haben. Manchmal muss eine Gemeinde von einem Menschen Abschied nehmen, der wichtig für alle war. Oder es gibt Enttäuschungen: Warum hat mich niemand besucht?

Ja, sagt Jesus Christus unserem Engel, ich kenne dich und deine Sorgen. „Aber du bist reich!“ Lass dich nicht abhalten von Gottes Zusage. Lass dich nicht verbittern. Trau der Freundlichkeit und der Gemeinschaft, trau mir und meinem Wort. Komm trotz und mit deinen Sorgen in die Gemeinde: Hier gibt es Menschen, die zuhören, die an dir interessiert sind, die sich gegenseitig stärken.

IV

„Fürchte dich nicht!“ Das ist der zweite Satz, den der Geist Gottes an die Gemeinde schreibt. Fürchte dich nicht! Mit dieser Zusage beginnt christliches Leben. Das sagt der Engel zu Maria, als sie hört, dass sie mit Jesus schwanger ist. Das sagt Jesus zu den Kranken, die verzweifelt zu ihm kommen. Das sagen wir zu den Kindern bei der Taufe: „Fürchte dich nicht, ich habe dich befreit, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein!“ Fürchte dich nicht, das ist für mich die Überschrift über das christliche Leben.

Mir ist dabei dreierlei wichtig:

  1. Fürchte dich nicht, kann man sich nicht selbst sagen. Das muss ich hören. Gerade wenn ich richtig Angst habe, brauche ich eine andere, die mir das zuspricht. Manchmal laut und deutlich, manchmal nur ins Ohr geflüstert: Trau dich, geh! Damit ich weiß, ich bin nicht allein, andere teilen meinen Glauben und meine Hoffnung. Sie stärken mir den Rücken. „Fürchte dich nicht“ braucht die Gemeinschaft.
  2. Wer: „Fürchte dich nicht!“ sagt oder hört, weiß: es gibt vieles, vor dem ich mich fürchten muss. Johannes schreibt der Gemeinde in Izmir: Fürchte dich nicht – und weiß zugleich, dass gerade einige im Gefängnis sind wegen ihres Glaubens. Er kennt ihre Not, aber er weiß auch um ihre Stärke: Christus ist bei euch! Deshalb ist die Zeit der Bedrängnis begrenzt. Zehn Tage wird sie dauern, sagt Johannes. Das war schon damals nicht als genaue Zeitangabe gemeint, sondern ein Bekenntnis: nur eine kurze Zeit, dann werdet ihr gerettet und eure Not wird ein Ende haben. Darauf vertrauen wir!
  3. Und schließlich: „Fürchte dich nicht!“ macht frei und mutig. Wer getauft ist, wer diese Zusage gehört hat, hat weniger Angst, den Mund aufzumachen. Traue ich mich, wenn eine in der Klasse gemobbt wird, mich auf ihre Seite zu stellen? Oder habe ich Angst, dann selbst angegriffen zu werden? Für was stehe ich ein, für was fühlen wir uns als Gemeinde verantwortlich?

V

Schließlich heißt es in dem Brief: „Sei treu, dann wirst du leben.“ Oder wie Johannes schreibt, dann wirst du die Krone des Lebens erhalten.

Was ist treu? Gemeinden wandeln sich. Vor 40 Jahren haben wir den Schwung genossen, mit dem hier oben viele Menschen neu anfangen wollten. Alles war möglich: ein neuer Stadtteil, eine junge Gemeinde, ein Aufbruch. Seitdem hat sich viel verändert. Der Stadtteil stellt jetzt neue Fragen an die Bonhoeffer-Gemeinde. Viele, die jung nach Ziehers-Nord gezogen sind, sind inzwischen alt geworden. Was ist für sie wichtig? Andere ziehen neu hierher und wollen nun ihre Akzente setzen. Finden sie Platz unter uns? Freuen wir uns auf neue Impulse von außen? Wie bleiben wir uns in allem Wandel treu?

Für mich heißt ‚treu’ zweierlei:

1. In allem Wandel bleiben wir wechselseitig füreinander verantwortlich. Wir achten aufeinander. Wir schauen, was Not tut und was wir dazu tun können, dass das Leben in Ziehers-Nord, in Fulda und darüber hinaus gedeiht.

Und 2. Wir richten uns gemeinsam aus auf Christus. Was will er uns heute sagen?

Ich will diesen Wandel am Beispiel des Volkstrauertages erläutern: „Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben!“ stand und steht auf vielen Denkmälern für die Gefallenen der Weltkriege. Treue zu Christus und Gehorsam von Soldaten galten damals als ein und dasselbe. Aber die Kirche und die Gemeinden haben sich gewandelt. Sie haben gemerkt, dass sie in die Irre gegangen sind. Heute, am Volkstrauertag 2012, gedenken wir der Opfer von Krieg und Gewalt, aber wir fragen uns zugleich: wie sind wir Christus treu, der seine Feinde liebte.

Mit Dietrich Bonhoeffer suchen wir Wege aus der Gewalt, gerade in diesen Tagen mit seinen Kriegsschrecken in Syrien, In Israel und Palästina: „Wer von uns darf denn sagen“, fragt Bonhoeffer, „dass er wüsste, was es für die Welt bedeuten könnte, wenn ein Volk – statt mit der Waffe in der Hand – betend und wehrlos und darum gerade bewaffnet mit der allein guten Wehr und Waffen den Angreifer empfinge?“ „Wie wird Friede? Durch ein System von politischen Verträgen? Durch Investierung internationalen Kapitals in den verschiedenen Ländern? D.h. durch die Großbanken, durch das Geld? oder gar durch eine allseitige friedliche Aufrüstung zum Zweck der Sicherstellung des Friedens? Nein, durch dies alles aus dem einen Grund nicht, weil hier überall Friede und Sicherheit verwechselt wird. Es gibt keinen Frieden auf dem Weg der Sicherheit. Denn Friede muss gewagt werden, ist das eine große Wagnis und lässt sich nie und nimmermehr sichern …“

VI

Wir kennen die Anschrift auf dem Brief: an den Engel der Gemeinde. Wir haben gelesen, was darin steht: „Ich kenne dich. Fürchte dich nicht! Sei treu, dann wirst du leben!“ Nun bleibt noch die Frage: Wer ist der Absender?

Johannes, der Seher, schreibt nicht in eigenem Namen. Alles, was er sagt und tut, sagt und tut er im Namen von Jesus Christus. „Das sagt der Erste und der Letzte, der tot war und ist lebendig geworden.“

Für mich heißt das: Alles, was wir tun und reden, tun und reden wir nicht, damit wir und unsere Gemeinden engagiert oder interessant wirken. Wir verweisen auf Christus, so wie Johannes der Täufer das tut, mit dem langen Zeigefinger! Wir fragen, was Christus von uns will und was er uns verheißt. Oder um es noch einmal mit Dietrich Bonhoeffer zu sagen: Es geht in der Gemeinde nicht darum, „aus sich selbst etwas zu machen“, sondern „in der Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge und Misserfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten zu leben“ und „sich Gott ganz in die Arme zu werfen“.

Das ist das Überraschende am Glauben: Schaue ich von mir weg auf das Kreuz und die Auferstehung, bekomme ich Mut für die Welt. Ich sehe die Not – und behalte die Hoffnung. Ich werde gestärkt – und mache anderen Mut. Ich werde frei – und helfe anderen. Ich schaue nach vorne – und sehe, wie Christus auf mich zukommt. Mit ausgebreiteten Armen sagt er: Ich kenne dich, fürchte dich nicht, du wirst leben!

Amen.

Jochen Cornelius-Bundschuh