Predigt am vorletzten Sonntag des Kirchenjahres (Volkstrauertag) 2013: Selbstverständlich (Jeremia 8,4-7)

Predigt über Jeremia 8,4-7 am vorletzten Sonntag des Kirchenjahres 17.11.2013

Gott spricht zum Propheten Jeremia:

„So spricht der HERR: Wo ist jemand, wen er fällt, der nicht gern wieder aufstünde? Wo ist jemand, wenn er irregeht, der nicht gern wieder zurecht käme? Warum will denn dies Volk irregehen und beharrt auf der Abkehr? Warum hält es am Irrtum fest und weigert sich umzukehren? Ich horche hin und höre: Schlechtes reden sie. Keiner bereut sein böses Tun und sagt: ‚Was habe ich getan?!’ Jeder wendet sich ab und läuft weg, wie ein Hengst, der in der Schlacht dahinstürmt. Selbst der Storch am Himmel kennt seine Zeiten, Turteltaube, Kranich und Schwalbe halten die Frist ein, in der sie wiederkommen sollen, aber mein Volk will von der Rechtsordnung des HERRN nichts wissen.“


Liebe Gemeinde! Es ist Abend. Ich sitze im Intercity von Halle nach Fulda und lese in meiner Bibel. Der einzige Mitreisende in meinem Abteil spricht mich an: „Ach, Sie lesen in der Bibel?“ Ich reagiere betont verwundert: „Ja, jeden Tag etwas – Sie etwa nicht?“ Er blättert im Bahnmagazin herum.

Mein Gesprächspartner will mich dazu „bekehren“, allgemein bekannte Lebensweisheiten anzuerkennen; das sehe doch jeder so. Da bekomme ich zum Beispiel zu hören, dass von nichts nichts kommt. Er scheint um meine seelische Gesundheit besorgt zu sein, falls ich nicht zustimmen würde, dass im Leben erst das Fressen komme, sodann die Moral. Fehlen dürfe nach seiner Erfahrung keinesfalls die verblüffende Einsicht, wonach jeder sich selbst der Nächste ist. Dies alles sei doch selbstverständlich! So einfach ist das. Mit meinen Worten: Ich bekam einen Crashkurs im Fach Wiedervereinigungsmaterialismus.

Mein Mitreisender versichert, er habe ja nichts gegen die Bibel, aber ich machte auf ihn den Eindruck, als wenn ich nichts anderes neben der Bibel läse und dadurch bedingt auch nichts anderes gelten lassen würde. Aber das könne man heutedoch nicht mehr so machen.

Bald wird Fulda angesagt, und wenig später steige ich aus.

Was war im Zug passiert? Unterschiedliches zum Thema: 1. Ich habe einen Anstoß bekommen, mich zu fragen: Was ist in Glaubensdingen für mich wirklich selbstverständlich? 2. Was sind im Gemeindeleben gesunde Selbstverständlichkeiten, z.B. Abendmahlsbesuch? 3. Meine Mutter ritzte, bevor sie ein frisches Brot anschnitt, ein Kreuzzeichen auf die Rückseite des eineinhalb Kilo Brotes. Sie sprach nie darüber, sie tat es einfach. 4. Ich lese gern in der Bibel. 5. Dabei suche ich jeden Tag eine kurze Zeit der Besinnung zu einem Wort aus der Bibel. 6. Das ist für mich immer etwas Besonderes zu sehen, was Gott auf ein Bittgebet hin in Bewegung setzt. Es dauert oft etwas lange. Gott ist manchmal langsam! 7. Ich kenne einige Familien, die ihre Kinder nicht nur zur Geigenstunde schicken, wo ja bekanntlich jede Stunde einiges an Honorar kostet. Sie schicken die Kinder auch zum Kindergottesdienst, obwohl die Kleinen heute vielleicht nicht so gut drauf sind. Außerdem würde ja beim Kindergottesdienst kein Honorar verfallen, wenn sie zu Hause blieben. Trotzdem gehen sie nicht nur zur Geigenstunde, sondern ganz selbstverständlich auch zum Kindergottesdienst.

Da fällt mir ein: Fragte ich vorhin eigentlich „Wo gibt es in unserem Gemeindeleben Selbstverständlichkeiten?“ Oder fragte ich:“ Wo gibt es noch Selbstverständlichkeiten?“

Wieso „noch“? Rechne etwa auch ich schon in vorauseilender Unterwürfigkeit damit, dass der Christusglaube in unserer Gesellschaft austrocknen wird? Fühlen wir uns als Rest, als Nachzügler? Viele Christen denken so. Möglicherweise auch in Fulda. Die Freude, die Kleinkinder an Ritualen haben, ist eine Sehnsucht nach religiösen Selbstverständlichkeiten. Die Eltern kennen aber keine mehr. Was antwortet aber ein Zeitgenosse auf die Frage eines Dreijährigen, was mit dem gestorbenen Opa wohl geschieht? Vielleicht versichert man dem Kleinen, dass die Naturwissenschaft daran noch arbeite. Der durchschnittliche Materialist überlässt es mitleidig lächelnd Besuchern aus Afrika, Alltägliches zu bekräftigen mit „möge Gottes Willen geschehen!“ Oder man hört bei einer Klage über den Tod eines Angehörigen, wie die Trauernden rufen „Gepriesen sei Jesus Christus!“ Alle anderen murmeln zustimmend.

Singen, beten, biblische Geschichten erarbeiten, aus einem Jesusgleichnis ein Anspiel für einen Elternabend machen – das sind Bausteine für eine selbstverständliche Spiritualität im Erwachsenenalter.

Christen in unseren Breiten wissen, dass sie nicht gleich verhaftet würden, wenn sie derlei in Deutschland praktizieren würden. Aber sie ahnen auch, dass eine unerhörte Spannung entstünde, wenn der Christ das in Wort und Tat leben würde, was für ihn selbstverständlich ist: der Gottesdienst, das Gebet – allein und in Gemeinschaft, die geistliche Lektüre, das gegenseitige Trösten und das laute Bekenntnis zu Christus. Währenddessen ist für den anderen die materialistische Deutung des Lebens derart selbstverständlich, dass er entrüstet überlegt, den Widerstand zu brechen: Widerspenstige junge Christen könnten von der Privatschule verwiesen werden, und besonders hartnäckige Fälle sollten auf Verdacht von Geistesgestörtheit untersucht werden. So wird aus den USA berichtet. Dies alles, weil für Christen Gottes Präsenz im Alltag ganz selbstverständlich wurde!

In dem hinreißend anschaulichen Predigttext lesen wir, was dem Volk Gottes selbstverständlich sein müsste: Falls jemand mal stolpert und hinfliegt, so steht er doch sofort wieder auf, und zwar gern. Ebenso falls jemand sich verlaufen hat. Und die verschiedenen Zugvögelgruppen formieren sich mit großer Klarheit zum baldigen Aufbruch gen Süden. Dies alles „wissen“ die Tiere und leben danach. An anderer Stelle im Prophetenbuch „Jeremia“ auch den heidnischen Völkern diese Instinktsicherheit zugute. Sie alle, Heiden und Tiere, praktizieren das Allernatürlichste von der Welt: Gottesdienst! Ihnen ist die Natur heilig, die wir Christen Schöpfung nennen. Gottlosigkeit ist letztlich unnatürlich.

Nur die Krone der Menschheit, das erwählte Volk, probiert es aus, wie es ist, auf Gott zu verzichten. Was Tiere und was selbst Heiden nicht fertig bringen, das schafft Gottes eigenes Volk: Es will von seinem Schöpfer nichts mehr wissen. Wir sehen Gott in ratloser Fassungslosigkeit. Es reicht nur zur Gottesklage. Wer kann Gott trösten? Ja, es ist wirklich Volkstrauertag, weil das Volk über die Machtlosigkeit Gottes trauert. Und über das eigene Versagen.

Mir steht kein Urteil zu, wie es mit Gottes unverbrüchlicher erster Liebe heute steht, mit dem Volk Israel. Der Profet Jeremia kam zu dem Ergebnis: Dem Volk Gottes ist nicht mehr zu helfen. Da könnte Gott lange warten, bis sich das Volk besinnt. Werden womöglich auch die Christen, werden auch wir – , Gottes neue Liebe,  – in unserem Alltag auf Gott verzichten?

Liebe Mitchristen! Es wäre wohl ganz im Sinn des Profeten Jeremia, wenn ich seine resignierte Klage eins zu eins auf uns übertragen würde. Ich habe mich entschlossen: Da mache ich nicht mit! Aber auch wenn wir uns nicht ändern könnten – , so verkündigen wir dennoch, dass Gott selber sich ändert. Ich begreife das Auftreten von Jesus Christus als den entscheidenden großen Gesinnungswandel Gottes. Ein Zeichen dieses Gesinnungswandels wurde für mich, wie der Engel bei den Hirten in der Heiligen Nacht erschien. Er ruft „Fürchtet euch nicht! Ich verkündige euch eine große Freude: Heute ist für euch der Retter geboren!“ Die Botschaft vom Kreuzestod Christi und von seiner Auferstehung sprach sich in Windeseile in Europa herum. Unseren Vorfahren war diese Botschaft sehr plausibel. Es wurde für jeden ganz natürlich und sinnvoll,  kurz: es wurde selbstverständlich, sich taufen zu lassen.

Diese Zeiten sind zwar vorbei. Wir müssen uns als Christen stattdessen darauf einstellen, erstens wenige zu werden, und zweitens sehr verstreut zu leben. Unser Glaube ist angefochten. Täglich mindestens einmal wird unser selbstverständlicher Glaube durch den alltäglichen Materialismus in Frage gestellt. Paulus zahlt zurück. Er ist so eine Art christlicher Jeremia. Er übergießt die damaligen Atheisten und Materialisten mit beißender Ironie. Er schreibt, sie lebten nach der Melodie „Lasst uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot.“ (1.Kor 15,32). Er will sagen: Das ist doch kein Leben! Jeder kann sich fragen: was lebe ich eigentlich? Nur essen und trinken? Das hat wenig Sinn!

Ich gehe mit einem Besucher in die Klosterkirche Germerode am Hohen Meißner. Sie steht seit 1165 unverändert. Mit diesem Beharrungsvermögen seit fast 900 Jahren alle Morgen neu rechnen zu können, ist eine massive Gewissheit. Ich spüre die Kraft der Steine, als bezeugten sie mir: „Auf IHN, auf Christus kannst du dich verlassen!“. Aber gleichzeitig spüre ich, wie Christus heute umstritten ist wie seit dem Ostermorgen noch nie. Das heißt doch: Bei Christus ist eigentlich nichts mehr selbstverständlich. Aber dafür ist bei IHM alles neu: seine Armut, seine wunderbaren Heilungen, seine Nächstenliebe und vor allem sein Tod am Kreuz. Er sprang ein an dem, was eigentlich uns betraf. Zum Beispiel: Er nahm unser resigniertes Klagen auf sich, damit wir mit Siegesgewissheit in die Zukunft blicken können. Christus ist im Kommen und nicht im Gehen.

Es ist einerseits grenzenlos dumm, Gott, den Schöpfer einen alten Mann sein zu lassen und nur an Essen und Trinken zu denken. Und es ist gleichzeitig eine gute Entscheidung, sich als Christ zu bekennen. Auch im frommen Fulda. Ich werde also wieder im Intercity in der Bibel lesen. Mal sehen, was mir nächstes Mal passiert! Amen.