Der Zug des Lebens – 50 Jahre EKG: 5. Sonntag nach Trintatis 2014 (Lk7,11-17)

Von Pfarrer Marvin Lange


Predigt zu Lk 7,11-17: Der Jüngling zu Nain
11 Und es begab sich danach, dass er in eine Stadt mit Namen Nain ging; und seine Jünger gingen mit ihm und eine große Menge.
12 Als er aber nahe an das Stadttor kam, siehe, da trug man einen Toten heraus, der der einzige Sohn seiner Mutter war, und sie war eine Witwe; und eine große Menge aus der Stadt ging mit ihr.
13 Und als sie der Herr sah, jammerte sie ihn und er sprach zu ihr: Weine nicht!
14 Und trat hinzu und berührte den Sarg, und die Träger blieben stehen. Und er sprach: Jüngling, aich sage dir, steh auf!
15 Und der Tote richtete sich auf und fing an zu reden, und aJesus gab ihn seiner Mutter.
16 Und Furcht ergriff sie alle, und sie priesen Gott und sprachen: aEs ist ein großer Prophet unter uns aufgestanden, und: bGott hat sein Volk besucht.
17 Und diese Kunde von ihm erscholl in ganz Judäa und im ganzen umliegenden Land.



1.    Zug des Lebens – Zug des Todes
Wie zwei Züge, die aufeinander zurasen: Hier der Zug des Lebens mit einer Menschenmenge von Jüngerinnen und Jüngern Jesu – da der Zug des Lebens mit einer Menschenmenge von Trauernden, Klageweibern um die Witwe und ihren frisch verstorbenen Sohn auf dem Weg zur Beerdigung.
Was für ein Zusammenprall dieser beiden Züge. Jesus sieht das Leid der Witwe. Der einzige Sohn. Tot. Abgrund der Trauer heißt das. Nicht nur persönlich – wahrscheinlich auch sozial. Ab sofort: Versorgung durch die Armenkasse der Gemeinde. Ohne Sohn. Ohne Ehemann. Jesus hat Mitleid, es geht ihm zu Herzen, es geht ihm an die Nieren, sein Innerstes wird angesprochen: Der Ort, wo das Mitleid sitzt, schreit zu ihm. Und da ist der Zug des Todes auch schon gestoppt. „Ab sofort kein Weinen mehr!“ sagt Jesus der Witwe. Hier der Tod, da das gesagte Unfassbare. Nicht weinen in einer vom Tod heimgesuchten Welt. Und da geschieht auch schon das Unfassbare. Jesus berührt die Bahre, auf der der Tote liegt. „Auferstanden!“ befiehlt er dem toten Mann. Und der Tote, berührt von Jesus, richtet sich auf, redet. 
Aus den beiden Zügen des Lebens und des Todes ist eine jubelnde Masse geworden. Freilich: Ehrfurcht ergriff die umstehenden Menschen. Eine Scheu vor dem Heiligen. Eine Furcht vor der unbegreiflichen Kraft, die von Gott ausgeht. Gottesbegegnungen sind immer verbunden mit einem gewissen Zittern. Zu groß ist der Abstand zwischen Gott und Mensch. Aber aus der Ehrfurcht wurde Jubel. Die umherstehenden Menschen wurden auf einmal zum Volk Gottes. Nicht länger der Zug des Lebens und des Todes. Auf einmal waren sie alle Volk Gottes. Und sie dankten und priesen Gott. Sie hatten sofort verstanden: Gott hat diesen Toten wieder lebendig gemacht. Nicht der Mensch Jesus. Nein, Jesus, in dem die schöpferische Kraft Gottes steckt. Ihm gilt unser Dank. Wir dürfen uns freuen. Eigentlich müssen wir uns sogar darüber freuen. Wer das Ernst nimmt, dem bleibt wohl nichts anderes übrig.

2.    Das tote Kind
Szenewechsel.
Eben haben wir getauft. Drei Menschen. Ein Baby, ein Kleinkind und eine junge Erwachsene.
Die Taufe, liebe Gemeinde, ist das Aufspringen auf den Zug des Lebens. 
Die Taufe ist das Zeichen Gottes für uns Menschen: Ich will, dass ihr lebt. Ich nehme Euch mit – auch über den Tod hinaus. 

X. ist ein fröhliches Mädchen. Ein Fest der Freude. Ein Fest des Lebens gegen das Dunkel des Todes. Gott sei Dank seid ihr heute hier: Ihr stimmt mit der Taufe ein in den Jubel der Massen, die im Glauben an das Leben und die Liebe zum Volk Gottes wurden. Ihr dürft daran festhalten: Nichts geschieht ohne den großen Plan Gottes. Ihr seid mitten drin. Und ihr werdet irgendwann verstehen – warum und wozu dieser Weg und kein leichterer. 
Denn es ist ja nun nicht so, dass Gott uns immer verständlich wäre. Gott hat seine düsteren Seiten. 
Ein Kind habt ihr verloren, und das kurz vor der Geburt. 
Wo war da Gott? Wo war da die große Kraft, die Jesus bei der trauernden Witwe angewandt hat? Wo war da der Jubel des Volkes über den Zug des Lebens? Wo ist das Leben, wenn um uns herum nur noch Tod und Traurigkeit ist? Die Witwe war wohl zur rechten Zeit am rechten Ort. Ihr Sohn wurde wieder lebendig.

Liebe Gemeinde, ich weiß auf solche Fragen keine Antworten. Manchmal gebe ich mich damit zufrieden zu sagen, dass unser Gott ein sehr seltsamer Herr ist. Dass er Dinge geschehen lässt, die sich meinem Verständnis von Güte, Barmherzigkeit und Allmacht entziehen. Dass er aus irgendeinem Grund bereit ist, uns Menschen leiden zu lassen. Dass er das tut – und wir stehen ratlos und beklommen da und schauen ängstlich auf das Leben.
Und halten dennoch an der Hoffnung fest, dass Gott uns gegenüber sich am Ende gnädig zeigen wird. Dass er uns annimmt. Das keiner von uns verloren geht. Und glauben gegen den Augenschein. Eben gerade habe ich X. getauft. Sie fährt mit dem Zug des Lebens.
 
3.    Die Flüchlinge
Szenenwechsel: Heimlich geht er mit seiner Frau in die Kirche. Ein stickiges kleines Kellerzimmer. Mehr geht nicht. Und auch das ist verboten. Diese Kirche ist eine Untergrundkirche. Im Iran haben es Christen schwer. Und Moslems, die neugierig sind auf das Christentum. Und noch schlimmer ergeht es denjenigen, die sich zu Jesus Christus bekehren. 
Heimlich geht er mit seiner Frau in die Untergrundkirche. Immer wieder. Beide überzeugt vor allem eines: Dass Gott die Liebe ist – und dass die Menschen einander in Liebe begegnen sollen. Das kannten sie vom Islam bislang nicht. Da war Hingabe und Unterwerfung angesagt. Gott und den anderen Menschen auf Augenhöhe begegnen: Das war ihnen neu. Das überzeugte.
Während eines heimlichen Gemeindetreffens ein Anruf der Mutter: „Kommt nicht nach Hause. Bleibt weg. Die Geheimpolizei steht vor der Tür.“ Das junge Paar schläft unter einer Brücke – selbst zu Freunden zu gehen trauen sie sich nicht. Das geht eine Weile so. Immer wieder der warnende Anruf der Mutter: „Kommt bloß nicht zu Eurem Haus. Es wird überwacht.“
Ein schneller Entschluss. Über die Grenze in die Türkei. Da ist man in Sicherheit. Wenn sich die Lage beruhigt, kann man ja zurückgehen. Ein kurzer Urlaub in Istanbul. Mehr nicht. 
Die Lage bleibt angespannt. „Mama, wir haben kein Geld mehr. Verkauf unser Auto und zahl das Geld auf mein Konto“, heisst es nach einigen Wochen Zwangsurlaub. Die Regierung hatte da schon alles beschlagnahmt. Das kleine Haus, das Auto. Eine Heimkehr war nicht mehr möglich. Auf Umwegen gelangt das junge Paar nach Hilders in die Rhön. Mittlerweile eine kleine Familie geworden. Mit dem unsicheren Status der Asylanten lassen sie sich allesamt taufen. 
„Das mit der Liebe, das hat mich so sehr überzeugt. Wir wollen Christen sein – egal, ob sie uns abschieben oder nicht.“ 
Eben gerade haben wir S. getauft. Dem Zug des Todes entronnen. Umgestiegen auf den Zug des Lebens. Ihr lebt nun bei uns. Ihr lernt unsere Sprache. Unsere Kultur werdet ihr mehr und mehr kennenlernen müssen. Ihr gehört zum Volk Gottes. Wenn ihr Hilfe braucht, habt ihr die Bonhoeffer-Gemeinde. Das hier sind keine Christen, die nur reden. Hier wird die Liebe gelebt. Ich freue mich mit Euch. Und dass ihr heute hier seid.

4.    Die verspätete Konfirmandin
Noch einmal Szenenwechsel. Die dreizehnjährige J. bekommt es freigestellt: Konfirmation oder nicht. Sie entscheidet sich dagegen. Gott – was für ein Blödsinn. Zwei Jahre vergehen. Plötzlich lässt sich ihre Mutter taufen. Hier bei uns im Bonhoeffer-Haus. Und da geschieht etwas. Sie steht daneben und wird von Gott berührt. J. will auf einmal auch dazugehören. 15 Jahre alt – eine verspätete Konfirmandin. Unter den 13-Jährigen fällt sie ein wenig auf: Die beiden Jahre machen in dem Alter viel aus. Sie stand dabei, als ihre Mutter getauft wurde. Als Jesus ihre Mutter berührte. Da merkte sie: Der Zug des Lebens fährt weiter. Sie möchte nicht bei den Traurigen stehen bleiben. Das Leben stattdessen ergreifen. Seinen Sinn ergründen.
Das pralle Leben schenkt Gott uns. Und da will sie mitfahren. Den Zug des Todes und der Sinnlosigkeit hinter sich lassen.
Und deshalb hast Du Dich eben taufen lassen. Taufe ist eine Auferstehung. Du hast das alte Leben hinter dir gelassen. Das neue Leben mit Gott liegt vor Dir. Und ich freue mich ganz persönlich, eine Konfirmandin in diesem Jahr zu haben, die man fast schon so einbeziehen kann wie eine Teamerin!

5.    EKG: 50 Jahre Zug des Lebens
Liebe Gemeinde: Drei Beispiele für unseren Predigttext aus dem Leben unserer drei Täuflinge. Ganz persönliche Geschichten, wie Gott aufrichtet. Wie Gott auferstehen lässt. Hin zum Leben.
Ich möchte ein letztes hinzufügen: 50 Jahre Zug des Lebens in evangelisch-katholischer Gemeinschaft. Seit 50 Jahren gehen in Ziehers-Nord zwischen Bonhoeffergemeinde und St. Paulus Menschen aufeinander zu. Viele gehen den Weg auch miteinander. In den konfessionsverbindenden Ehen. Aber auch in unseren Krabbelkreisen, unsren Jugendgruppen, unsren Seniorenkreisen. Wenn kulturelle oder erwachsenenbildnerische Angebote von katholischer oder evangelischer Seite gemacht werden. 
Das, was auf kirchenleitender Ebene nach wie vor nicht klappen will, das wird hier bereits seit 50 Jahren gelebt. Angefangen bei den Pfarrern Lang und Slenczka – und fortgesetzt bis in die heutige Zeit mit unzähligen ökumenischen Trauungen, Einweihungen und mehr Schulgottesdiensten als das Jahr Wochen hat. Und dem alle Jahre wieder stattfindenden ökumenischen Sommerfest.
Dem Evangelisten Lukas kommt es genau darauf an: Dass alle am Ende in das Lob Gottes einstimmen. Evangelisch und katholisch kannte der noch nicht. Aber wusste: Die Meinungen zum Christentum gehen auseinander. Am Text kann man es gut erkennen. Lukas bezeichnet Jesus als den HERRn. Das Volk nennt ihn einen Propheten.  Am Ende steht das Volk Gottes, das Gott lobt. Alles andere verschwimmt da. Wird unwichtig.
Unsere große Gemeinsamkeit evangelisch wie katholisch ist der Glaube an Jesus Christus. Alles andere ist dagegen klein. Alles andere sind Überformungen. Weiße Messgewänder oder schwarze Taläre. Mit oder ohne Weihrauch. Die Papstkirche oder die „Kirche der Freiheit“.
Ihr Lieben, auch wenn es nur Formen sind: Es sind diese doch so stark, dass man sie wahrnimmt als wäre es große Unterschiede. Die Stellung der Frau in der Kirche. Die Sexualmoral, verbunden mit dem Zölibat für die Priester. Andere Festtage. Reliquien und Rosenkranz. Das Verbot für Evangelische, am katholischen Abendmahl teilzunehmen. Es mögen bloß Formen sein, aber es sind doch Formen, die an unsere menschliche Substanz gehen. 
Wo man sich wünschte, dass all die Regeln und theologischen Spitzfindigkeiten der Herr einfach wegwischen würde indem er den Kirchenleitungen zuruft: „Ich sage Euch, steht auf!“ so wie er es mit dem Jüngling in Naiin gemacht hat. Dass den trägen Kirchen nichts anderes übrig bleibt als aufzustehen und ins Lob Gottes einzustimmen. Und alle Grenzen zu überwinden. Und wirklich zu merken: Wir gehören alle zum Volk Gottes, wir Christusgläubigen. Alles was trennt, wird getilgt. Das Verbindende ist der Zug des Lebens, das Trennende wird aufgehoben.

6.    Die Freude Gottes
Eine regelmäßige Gottesdienstbesucherin sagte vor einer Weile zu mir: „Mit Ihren Predigten wollen Sie doch immer nur, dass sich die Menschen freuen.“ Ich war mir nicht sicher, ob sie es ernst meinte oder eher augenzwinkernd. 
Aber es stimmt. Freude ist eines meiner großen Themen. Eigentlich ist Freude das Ziel. Ich weiß, dass das mit der Freude manchen gar nicht leicht fällt. Und ich weiss auch, dass viele von Euch manchen Kummer und manch schwere Krankheit oder Verlust tragen müssen. Das weiß ich.
Dennoch werde ich nicht müde, euch Mut zu machen: Weiterzugehen, das Leben, das man hat, als Gottes Geschenk für euch zu begreifen. Natürlich in dem Bewusstsein, dass Gott alle Tränen trocknen wird. Im Wissen darum, dass Jesus auch an Dich herantritt, um dich aufzurichten. Im Glauben an die freundliche Berührung Gottes mitten im Tod. 
Schaut auf euer Leben und seht nach, wo eure Auferstehungen zu finden sind. Wo ihr an dem Punkt wart, als Jesus Euch berührt hat. Als ihr traurig wart, oder auf der Flucht, oder unsicher über den Sinn des Lebens.
Und Gott dann zu euch kam. 
Dann stimmt ein mit der Menschenmenge vom Zug des Lebens, lasst euch ergreifen vom Jubel und der Freude! In dem Moment seid ihr es nämlich selbst: Volk Gottes. 

Amen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinn ein Christus Jesus. Amen.

LIED EG 294,1-4: NUN SAGET DANK UND LOBT DEN HERREN