22. Sonntag nach Trinitatis 2013: Gott nahen! (Micha 6,6-8)

Von Pfarrer Marvin Lange

Predigt zu Micha 6,6-8: Gott nahen

6 »Womit soll ich mich dem HERRN nahen, mich beugen vor dem hohen Gott? Soll ich mich  ihm mit Brandopfern nahen und mit einjährigen Kälbern?

7 Wird wohl der HERR Gefallen haben an viel tausend Widdern, an unzähligen Strömen von Öl? Soll ich meinen Erstgeborenen für meine Übertretung geben, meines Leibes Frucht für meine Sünde?«

8 Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und  was der HERR von dir fordert, nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.


„Gott nahen“ Teil 1

Liebe Gemeinde!

Als ich in vorletzte Woche in Jerusalem in die Grabeskirche ging, um dort den Berg Golgatha zu sehen, also die Stelle, an der Jesus gekreuzigt wurde,

und den Stein, wo man Jesus hingelegt hatte, um ihn nach der Kreuzigung zu waschen,

und das Grab, wo er angeblich hineingelegt hatte,

war ich froh, dass es keine evangelische Kapelle oder Nische gab.

Man muss sich das so vorstellen: Fünf christliche Konfessionen in einer Kirche, jede Konfession älter und ehrwürdiger als die andere, jede sich wichtiger und besser wähnend als die andere, muss in einer sehr großen Kirche miteinander zurechtkommen.

Das geht so gut, dass man sich nicht einmal darüber einigen kann, wann geputzt werden darf und wer dafür verantwortlich ist, eine seit Jahren nach einer Renovierung vergessene Leiter wegzuräumen.

Es geht so gut miteinander, dass die türkische Regierung bereits vor Jahrhunderten beschlossen hat, den Kirchenschlüssel einer muslimischen Familie anzuvertrauen, die sich seit dieser Zeit um all diese eher hausmeisterlichen Tätigkeiten kümmert.

Weil die christlichen Konfessionen derart im Clinch liegen, hat die israelische Regierung daran nichts geändert, sondern dies um des lieben Friedens willen beibehalten.

Moslems sind es, die für eine der zentralsten Kirchen der Welt zuständig sind, weil sich die Christen innerhalb der Mauern derart unwillig begegnen, dass man sich dafür nur schämen kann, Christ zu sein.

Aber zu den Attraktionen dieser Kirche: Vom Berg Golgatha, also dem, wo Jesus wahrscheinlich gekreuzigt wurde, sieht man nichts.

Der Gipfel, der sich wohl unter dem Altar der Kirche befindet, ist völlig zugebaut mit Silber, Gold, Weihrauchgefäßen, Ikonen, Öllämpchen und natürlich auch Pilgern.

Letztere stellen sich in einer Schlange an, werfen sich vor dem angeblichen Kreuzigungsort nieder, verharren in demütiger Stellung vor dieser Zusammenstellung aus Gold und Silber und schleppen sich dann weiter zu der steinernen Liege, auf der der Leichnam Jesu eventuell für einen kurzen Moment zum Liegen kam.

Um in das angebliche Grab zu kommen, steht man ungefähr eine Stunde lang in einer gewaltigen Schlange an. Der Priester, der den Eingang gemeinsam mit einem israelischen Polizisten bewacht, nimmt gern Spenden an, um die Geber dann gleich wieder in die Schlange fortzuscheuchen.

Der Prophet Micha fragt dazu:

„Womit soll ich mich dem HERRN nahen, mich beugen vor dem hohen Gott?

Soll ich mich  ihm mit Brandopfern nahen und mit einjährigen Kälbern?“

„Gott nahen“ – Teil 2

„Wir müssen das größer denken“, sagt einer aus dem Orgelausschuss der Bonhoeffergemeinde.

„Wir kommen mit dem Geld so nicht aus. Das muss mehr Volumen haben, der Organist muss mehr Register ziehen können, es muss alles größer werden.

Und dann wird es eben teurer.

Für den Gottesdienst ist das Beste gerade gut genug.“

Schweigen im Raum. Die Sitzung geht weiter.

Ein hin und her zwischen Kosten, Kunst und architektonischen Bedingungen.

Am Ende steht tatsächlich ein teureres Instrument als jemals von mir als damals noch recht unwissendem Ortspfarrer gedacht war.

Die Schulden werden wir noch in ein paar Jahren zurückzahlen müssen.

Alles freilich aus den Spenden, die gern gegeben werden.

Von denen, die den Orgelbau zu schätzen wissen.

Diejenigen, die dieses Projekt nicht unterstützen, brauchen ja tatsächlich nichts geben.

Ein Selbstläufer also.

„Ich kann das Wort ‚Orgel‘ nicht mehr hören“, bekannte mir erst vergangene Woche eine Kirchenvorsteherin.

Vielleicht ist es manchem etwas zu viel geworden, die hier öfter aus und ein gehen.

Ich nehme mich da selber nicht aus.

Wenn das Instrument da ist und wir damit Gottesdienst feiern können, dann mache ich drei Kreuze.

Dann ist endlich wieder mehr Platz für andere, dringend anstehende Renovierungsmaßnahmen.

Dann ist endlich wieder Luft da, um für andere Projekte zu sammeln, die nicht ganz so umstritten sind.

Der Prophet Micha fragt dazu:

„Wird wohl der HERR Gefallen haben an viel tausend Widdern, an unzähligen Strömen von Öl?“

„Gott nahen“ – Teil 3

„Ich bin unheimlich gern hier im Bonhoeffer-Haus“, sagt die junge Mutter. „Obwohl ich katholisch bin. Ich nutze all die Angebote, die uns hier gemacht werden. Ich schätze die offene Art und Weise, mit der die Menschen sich hier begegnen. Mein Kind habe ich leider noch nicht taufen lassen. Meine Eltern und Schwiegereltern sind katholisch.

Die würden das nicht mitmachen. Bestimmt gäbe das Ärger. Ja, obwohl wir im Jahr 2013 leben, ist das hier im Rhöner Land immer noch wichtig. Auch wenn es heißt, dass es gute ökumenische Kontakte gibt. Ich habe ja selber schon lange überlegt, ob ich hier eintrete. Aber das geht doch nicht. Ich bin so erzogen worden. Außerdem ist es doch eh ein und der selbe Gott. Eigentlich gibt es doch gar keine Unterschiede.

Seltsam, dass ich trotzdem so gern hier bin.Der jetzige Papst ist zwar ganz in Ordnung, aber sonst habe ich mit katholisch sein gar nicht viel am Hut. Aber hier im Bonhoeffer-Haus bin ich echt gern.“

„Sie wissen, dass wir in einem freien Land leben und ab dem 14. Lebensjahr völlige Religionsfreiheit genießen?“ frage ich sie. „Sie wissen, dass wir für unser eigenes Leben und das unser Kinder Verantwortung übernehmen müssen in Glaubensdingen und uns da nicht familiäre Erwägungen abhalten sollten?“

„Ja schon…, vielleicht später dann…“

Der Prophet Micha fragt dazu:

„Soll ich meinen Erstgeborenen für meine Übertretung geben, meines Leibes Frucht für meine Sünde?“

Gott naht sich uns!

Drei Szenen darüber, wie sich aktuell Gott genähert wird. Drei Szenen, die der Prophet Micha wahrscheinlich recht gut kennt.

Da ist einmal eine Religiosität, die ganz und gar auf Äußerlichkeiten setzt, wie ich sie in Jerusalem schmerzlich erfahren musste. Gott nahe zu kommen wird dadurch versucht, dass man überall sogenannte sakrale Kunst hinstellt und man am Ende vor lauter Überflüssigem das Eigentliche nicht mehr zu sehen bekommt. Wie Brandopfer, die in Rauch und Qualm das Eigentliche verdecken. Die einen beinahe ersticken lassen und keine Luft mehr lassen für Gott selber. Diese Äußerlichkeiten können auch das teure Konfirmationskleid sein, während man selber kaum das Glaubensbekenntnis sprechen kann. Es kann die Trauung als Mega-Event sein, bei dem es dem Frisch-Vermählten Paar nur darauf ankommt, vor dem Fotografen in der Kirche schön zu posieren und der Pfarrer vor allem schnell fertig sein muss, damit man den Zeitplan einhalten kann, der schon ein Jahr vorher bis ins Detail regelt, welche Minute mit welcher Aktion belegt ist.

Religion in der totalen Äußerlichkeit – das hat der Prophet Micha vor 2500 Jahren gut gekannt im Tempel und Alltag – und hat es verachtet und spöttisch mit seinen Fragen bloßgestellt. „Will Gott das, dass man ihm naht mit lauter Äußerlichkeiten?“ fragt er rein rhetorisch.

Da ist zum anderen eine Frömmigkeit, die mit einem „möglichst viel“ meint, Gott am besten nahen zu können. Das Beispiel unsres Orgelneubaus können wir da für einen kleineren Bereich anführen – zweifellos mit Sachverstand alles geplant und gebaut, aber doch von einem so großen Volumen für so ein kleines Budget wie es dem Bonhoeffer-Haus zur Verfügung steht, dass sich manch einer fragt, warum so und nicht anders.

Der Limburger Bischof hat die „viel 1000 Widder“ und die „unzähligen Ströme von Öl“ freilich in einem ganz anderem, wahrscheinlich kriminellen Maß eingesetzt. Was er da machte zielt aber in die gleiche Richtung, die schon der Prophet Micha kritisierte.

Es ist letztendlich nach der Qualität der Gottesbeziehung, die nicht in Äußerlichkeiten ersticken soll, die Frage nach dem richtigen Maß für mein Verhalten gegenüber Gott.

Wieviel setze ich ein, um mich Gott auszusetzen? Oder anders gefragt: Wieviel, meinen wir, hat Gott nötig, damit er auf uns schaut?

Positiv, also in einem guten Sinne, brachte meine Tante aus Amerika diese Haltung des „immer mehr“ auf den Punkt, als sie sagte, dass, um das Wort Gottes zu verkündigen, das Beste gerade gut genug ist. Das heißt: Wenn andere von Jesus Christus überzeugt werden, wenn große Orgeln oder riesige Domherrenhäuser gebaut werden, dann können wir dazu all unser Geld verwenden. Ist schließlich nur irdisches, vergängliches  Geld und nicht die Glückseligkeit der Ewigkeit.

Die Frage musste sich meine Tante freilich gefallen lassen, dass manch einer von dem einen Tun abgeschreckt wird, während andere gerade das gut und lobenswert finden.

Und der Prophet Micha hat das nur als rhetorische Frage verstanden: Um Gott zu nahen benötigen wir keinerlei Voraussetzungen und Einsätze. Der ist schließlich längst da, wenn wir meinen ihn aufsuchen zu müssen.

Und die dritte Variante, sich Gott zu nähern?

Die Mutter, die ihr Kind nicht taufen lassen kann, weil die Großeltern es für falsch halten, evangelisch zu werden? „Soll ich denn mein Kind opfern bzw. den Familienfrieden hintan stellen, um es den Leuten im Bonhoeffer-Haus recht zu machen, die meinen, alle müssten nach Möglichkeit früher oder später evangelisch werden?“

Heißt das, Gott in einem guten Sinne zu nahen, indem man Ärger in der Familie provoziert, weil ein Teil der Familie einfach zu katholisch ist, um einzusehen, dass Glauben nicht in der Entscheidungsgewalt anderer liegt sondern tatsächlich die Privatsache jedes einzelnen Menschen?

Natürlich nicht.

Natürlich ist es viel wichtiger als jede weitere Taufe, dass Menschen sich hier im Bonhoeffer-Haus treffen und miteinander gemeinsam erfahren und lernen, was es heißt, Gott zu begegnen. Natürlich freuen wir uns auch über jedes Mitglied, über jeden Täufling, wie gerade den kleinen Tisan. Jeder Eintritt in unsere Gemeinde, jede Taufe ist für mich etwas unglaublich besonderes, weil es zeigt, dass die evangelische Kirche nach wie vor Strahlkraft hat. Und dass für die Menschen die Verbundenheit mit Gott etwas ganz wichtiges ist.

Aber diese Strahlkraft oder Verbundenheit schafft sie nicht, weil Vorschriften bei uns hochgehalten werden und Zwänge, sondern weil wir den Menschen zu der Freiheit lassen wollen, die jedem Menschen von Gott her gegeben worden ist.

Und wenn man diese drei Weisen, Gott nahe kommen zu wollen, beiseite legt, weil man hier bei uns und anderswo erfahren hat, was evangelisch sein im 21. Jahrhundert heißen kann, dann kann man von ganzem Herzen auch das hören, was Micha seinen Israeliten vor fast drei Jahrtausenden Jahren als Antwort auf seine rhetorischen Fragen mitgegeben hat:

„Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und  was der HERR von dir fordert, nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.“

1. Gottes Wort halten: Was uns von Jesus überliefert wurde, kennen und verstehen. Und damit die Glaubensbeziehung zu Gott stärken. Abends beim Gebet mit den Kindern oder Enkeln. Sonntags im Gottesdienst oder Kindergottesdienst. Bei Taufen, Trauungen und freilich auch dem Lebensende, bei den Beerdigungen. Beim Lesen in der eigenen Bibel oder beim Vorlesen der Kinderbibel für diejenigen, deren Ohren noch völlig offen sind für Gottes Wort.

2. Liebe üben: Nachsichtig sein mit denen, die man liebt. Das übt ein darin, auch mit denen, die man nicht so sehr liebt, ein wenig nachsichtiger umzugehen. Verständnis aufbringen; Verzeihen können; sich solidarisch zeigen mit denen, denen es nicht so gut geht. Sie kennen das alles, es ist längst Kirchensprech-Gemeingut geworden, wo die Leute im Gottesdienst dann abschalten. Und dennoch ist eine richtige Haltung, mit der man sich Gott naht. Wer Liebe übt, naht sich Gott auf einem guten Wege, hätte der Prophet Micha gesagt.

3. Demütig sein vor deinem Gott. Ein altes Wort, diese Demut. Philosophisch gesprochen: Wenn Gott tatsächlich da ist, dann ist er das Größte überhaupt anzunehmende Wesen, allmächtig, allwissend, allgütig, den ganzen Kosmos umfangend.
Ein wenig Bescheidenheit wäre da angebracht, wenn wir mal darüber nachdenken, was für kleine Wesen wir dagegen sind.

Theologisch gesprochen: Wenn dieser gewaltige Gott von sich aus sagt, dass er sich uns naht und er uns lieb hat, dann ist Bescheidenheit bzw. Demut für uns das Einzige, was wir überhaupt tun können.
Und das ist dann auch mehr ein Nichtstun!

Gott nahen.
Das war die rhetorische Frage des Propheten Micha, der die Antwort dann gleich mitliefert: Gott nahen wir nicht, weil Gott doch schon längst da ist.

Was wir selber machen können, um diese Nähe von uns aus aufzunehmen, ist sein Wort versuchen zu verstehen und zu halten, beim Nächsten Liebe zu üben und ansonsten dankbar zu ihm aufschauen, dass er für uns da ist – ohne unser eigenes Dazutun.

Das, liebe Gemeinde, ist dann ein fester Glaube.

Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Bruder und Herrn. Amen.