Von Pastor Dr. Wolfgang Kubik
Liebe Brüder und Schwestern!
Wir machen uns keine Vorstellung, wie wichtig den Juden der Sabbat war und wohl auch heute ist.
Der Sabbattag ist heilig, das heißt: alles, was Arbeit ist oder nach Arbeit aussieht, ist tabu. Alles was Beine hat eilt zur Synagoge. Keiner würde seinen Gottesdienstbesuch vom Wetterbericht abhängig machen.
Dieser geheiligte Tag der Woche war für einen Juden von höchster Bedeutung, denn das strenge Beachten der Sabbatvorschriften brachte der Welt den Messias ein Stück näher. Er könnte kommen.
In zwei aufeinander folgenden Szenen zeigt der Evangelist Markus, wie sich Jesus mit dem Sabbat-Thema befassen muss. Wir lesen Mk 2,23 bis 3,6.
Jesus ist mit den Jüngern unterwegs. Sie rubbeln eine Handvoll Ähren im Getreidefeld und knabbern sodann die Körner. Da kommen Pharisäer. Was sind das für welche? Sie bilden eine Art Laienbruderschaft, eine geistliche Bewegung. Sowas könnten wir in unseren Gemeinden gut gebrauchen. Sie lieben die Gebote Gottes und beachten sie gewissenhaft. Jesus spricht zunächst sehr anerkennend von den Pharisäern. Pharisäer haben ihn einmal gewarnt, als Agenten des Königs Herodes ihm auflauerten. Aber Jesus verteidigt seine Jünger vor den Pharisäern. Diese stört wohlgemerkt nicht der Mundraub, sondern die Sabbatentheiligung! Jesus erinnert sie an David, als dieser noch eine Art Partisanenführer war: immer auf der Flucht, immer hungrig und erschöpft. Ebenso seine abenteuerliche Truppe (1. Sam 21). David ergriff die Chance, sich an einem Heiligtum mit Brot einzudecken. Es war dummerweise heiliges Brot. Das war Sünde, aber gleichzeitig ein Notstand. (Im Deutschen Reichsstrafgesetzbuch eine „Verbrauchsmittelentfernung“ bei geringer Strafe!)
Von einem Notstand kann aber an jenem Sabbat bei Jesus und seinen Jüngern keine Rede sein. Die Jünger hätten bis Montag warten können. Sie wären nicht verhungert. Das hätten Jesus und seine Jünger eigentlich wissen müssen, als sie an einem Sabbat durch ein Getreidefeld gingen und Ähren rubbelten. Wollte Jesus mit seiner unbekümmerten Provokation auf die Unverhältnismäßigkeit der pharisäischen Rüge hinweisen? Für Pharisäer ein Rückschlag für die Messiaserwartung! Doch damit nicht genug.
Nach der Sabbat-Affäre im Getreidefeld geht Jesus weiter in die Synagoge. Wahrscheinlich dieselben Pharisäer erwarten ihn. Ein Mann mit verdorrtem Arm steht schüchtern im Hintergrund. Die Pharisäer wissen genau: Jesus könnte heilen! Aber dann wäre wieder der Sabbat öffentlich verletzt. Meinen sie etwa im Ernst, dass der Gelähmte dann eben bis Montag warten müsse? Dann wäre aber Jesus weg, das hieße – Pech für den Behinderten! Diese Sabbatvorschriften machen Jesus zornig und traurig zugleich. Kennt das Sabbatgebot denn keine Notfälle, keine Barmherzigkeit? Was hat das noch mit echter Heiligkeit Gottes zu tun? Es ist Jesus zum Heulen.
Wir wissen, wie die Pharisäer als selbsternannte Religionswächter die Öffentlichkeit überwachten. Auch damit hätten Jesus rechnen müssen. Da war es ja offensichtlich, wer die Vorschriften einhielt und wer nicht. Diese brauchten nur äußerlich abgeprüft zu werden. Deswegen war die Wachsamkeit am Sabbat so beliebt. Sie wachen ja über die Gebote Gottes. Die hat Gott einst gegeben als Geländer zum Weg durchs Leben.
Aber glauben die Pharisäer allen Ernstes, dass Gott gnädig ist, wenn sie sich Quasten machen an den Zipfeln ihrer Kleider und blaue Schnüre an die Quasten der Zipfel (Numeri 15,37-41). Oder wenn sie in der Öffentlichkeit demonstrativ und bewusst lange und laut beten? Glauben sie ehrlich, dass der Messias auch nur eine Stunde eher kommt, wenn die Jünger sich beim Überqueren des Kornfeldes beherrschen und keine einzige Ähre aufrubbeln?
Jesus glaubt dergleichen schon lange nicht mehr. Und was das Schlimmste ist: Das glauben die Pharisäer selber auch nicht. „Alles, was sie tun, machen sie, um von den Leuten gesehen zu werden“, resümiert Jesus. Das ist eine geradezu gespenstige Szene: die Gebote der Religion werden immer komplizierter bzw. nur noch mit professionellem Einsatz zu erfüllen. während das Herz der Gläubigen immer weiter verkümmert. Äußerlich funktioniert alles, aber im Inneren ist der Mensch nicht bei sich. Er übt sich darin, etwas vorzuspielen. Manch einer wird sich gefragt haben „wer bin ich wirklich?“ „Was sie euch sagen, das tut und haltet; aber nach ihren Werken sollt ihr nicht handeln“, kommentiert Jesus.
Aber genau da liegt das Problem! Wir halten einen Moment inne: was nehmen wir wohl mit nach Hause? Sollen wir uns bloß vornehmen, künftig nicht mehr am Sonntag das Auto zu waschen, sondern zum Gottesdienst zu gehen? Oder sollen wir sagen: Das heißt ja gerade evangelisch sein: Juden und Katholiken müssen den Feiertag heiligen, wir brauchen das nicht! Beides führt nicht weiter.
Wir kriegen plötzlich einen geschärften Blick dafür, wenn unser Leben immer mehr in Äußerlichkeiten versinken würde. Zum Beispiel: Hauptsache, ich beherrsche die liturgischen Formen im Gottesdienst! Wie lasse ich beim Kirchenkaffee betont beiläufig einfließen, dass ich gestern eine – wie heißt das doch? – namhafte Spende für die Diakonie überwiesen habe! Ich kenne die Gemeindeordnung in- und auswendig. Meine gepflegte Kleidung wird sicher Beachtung finden. Und einen Wettbewerb im schnellen Aufschlagen von Liednummern im Gesangbuch würde ich bestimmt gewinnen. Ich wäre mit mir zufrieden, im Kirchgang eine christliche Leistung erbracht zu haben. Ich gehe oft zur Kirche, um dem Pfarrer einen Gefallen zu tun. Ich genieße es, gesehen zu werden.
Diese und andere Äußerlichkeiten gewinnen allmählich Macht über meine Seele.
Dies und vieles mehr scheint manchmal die Gemeindezugehörigkeit auszumachen. Aber wir wissen doch, dass dies die Seele nicht tröstet. Was glaube ich eigentlich wirklich? Woran würde ich mich in einem Schicksalsschlag, ja, in meiner letzten Stunde festhalten können?
Es ist paradox: Im Namen Gottes muss Jesus sich über ein Gebot Gottes hinwegsetzen. Er steht über der Sabbatverordnung. Was haben die beiden Begebenheiten im Kornfeld und in der Synagoge gemeinsam? Beide zeigen uns: so ist Gott. Sie zeigen Gottes Großherzigkeit – das Gegenteil von Kleinkariertheit. Sie zeigen, wie es Gottes Sohn traurig und zornig macht, wenn Schein und Wirklichkeit auseinanderklaffen. Ja, die beiden Begebenheiten im Evangelium zeigen, wie im Herzen Gottes die Barmherzigkeit das letzte Wort behält. Deswegen: „Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbat willen.“ Ja, Jesus geht es um den Menschen. Wo nicht, da macht es ihn wütend und traurig zugleich. So ist unser Herr! Er ist gekommen, um zu retten.
Nein, liebe Gemeinde! Bloße Appelle zum Arbeitsverbot am Sonntag und zum Gottesdienstbesuch führen nicht weiter. Wenn ich mich mir selbst in meinem Inneren zuwende, frage ich mich: Wo ist meine Begeisterung für Jesus abgeblieben? Wo blieb die Sehnsucht, im Glauben wahrhaftig zu bleiben? Wann beginnt meine Reise nach innen? Wer anfängt, sich so um Gott und die Seele zu kümmern, den würde es sonntags von allein zum gemeinsamen Gottesdienst ziehen. Er wüsste, was er für sich erwartet.
Liebe Gemeinde, die Tage werden kürzer. Bald wird sich die Sonne nur selten zeigen, eine Jahreszeit, die geradezu einlädt, mich um Gott und um meine Seele zu kümmern. Viele von uns haben ihre Lebensmitte in aller Stille schon überschritten. Das ist eine Herausforderung für uns, nach innen zu gehen.
Es würde mich auch nicht wundern, wenn ein Gemeindeglied nach dem anderen an dunklen Tagen sich aufs Sofa setzt, eine Kerze anzündet und den vergangenen Tag Gott zurückgibt. Wem eigene Worte zum Gebet fehlen, der schlage doch einfach die Psalmen in seiner Bibel auf. Sie stehen genau in der Mitte der Bibel. Man kann sie nicht verfehlen. Schon nach 2 oder 3 Psalmen merkt man: Da bin ja ich gemeint! Darüber könnten wir dann ja mal sprechen. Amen