2. Sonntag nach Epiphanias 2019: Antike Tugend-Tabellen gegen geistliche Intuition (Röm 12,9-16)

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus,
der die Welt erleuchtet,
sei mit euch allen. 

Mit Kindern und Jugendlichen muss man manchmal korrektes Verhalten einüben. Was für Erwachsene normalerweise ganz normal ist, muss bei Schulklassen, Konfirmandengruppen extra angesprochen sein. Neulich zum Beispiel bin ich mit zwei achten Klassen in die katholische Kirche St. Paulus gegangen. Da war die Frage vor der Eingangstür: „Wie verhält man sich in einer katholischen Kirche?“ Und die Antworten kamen sehr schnell: nicht rennen, leise sein, keine Gegenstände anfassen, den Altarraum nicht betreten, nicht schreien.

Eigentlich Selbstverständlichkeiten, die auch jeder Schüler und jede Schülerin für sich sofort so gekannt hat. Trotzdem ist es in der Gruppe manchmal gar nicht so einfach, da dann auch alles einzuhalten. Da ist dann eben Max, dem man doch schnell mal irgendetwas erzählen möchte und springt dann eben rasch über die Bänke drüber. 
Oder da ist Julia, die mit ihren Freundinnen schon wieder am Smartphone herum spielt, und dann anfängt laut zu kichern und ganz viele zum Blödeln animiert. 
Also alles in allem gar nicht so einfach, einfachste Verhaltensweisen in einer Gruppe dann tatsächlich einzubehalten – 
und noch schwieriger ist es, zu einer sogenannten „moralisch gefestigten Person“ zu werden.

Darum geht es nämlich heute!

In der Antike kannte man dieses Problem schon sehr gut. 
Es gab im alten Rom Clubs, Vereine, in denen es allein darum ging, wie man sich in der Öffentlichkeit verhält und auch wie man möglichst viel Gutes tun kann.
Diese Vereine hatten nun weniger mit heutigen Schulklassen und ihren Problemen zu tun, sondern waren eher vergleichbar mit Wohltätigkeitsvereinen von heute, 
wie etwa den „Lions“ oder den „Rotariern“. 
Zweck vieler solcher Vereine war es, sich besonderen ethischen Maßstäben zu verschreiben. 
Als Mitglied verpflichtete man sich darauf. 
Versammlungslokal waren oft Privathäuser, die Satzung des Vereins wurde in einer Inschrift festgehalten. 
Soziale Unterschiede galten innerhalb des Vereins nicht, Frauen und Männer, Sklaven und Freie waren gleichberechtigt. 
Es gab Initiationsrituale und gemeinsame Mahlzeiten.

Da konnte das Christentum sehr schön anschließen. (Nach einer Idee von einem Kollegen auf Facebook im „Predigtforum“ nach einer Erinnerung an ein Buch (?) Klaus Bergers.)
Sich wunderbar dem Zeitgeist anpassen. (Ja, das haben wir schon immer so gemacht, wo es kommod erschien!)

Wahrscheinlich ist Röm 12,9-16 in diesem Zusammenhang zu verstehen. 
Hört, welch hehre Maßstäbe der Apostel Paulus für das Leben von Christen vorsieht!

•    Die  Liebe sei ohne Falsch.  
•    Haßt das Böse, hängt dem Guten an.
•    Die brüderliche Liebe untereinander sei herzlich.  
•    Einer komme dem andern mit Ehrerbietung zuvor.
•    Seid nicht träge in dem, was ihr tun sollt.  
•    Seid brennend im Geist.  
•    Dient dem Herrn.
•    Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal,  beharrlich im Gebet.
•    Nehmt euch der Nöte der Heiligen an.  
•    Übt Gastfreundschaft.
•    Segnet, die euch verfolgen;  segnet, und flucht nicht.
•    Freut euch mit den Fröhlichen und  weint mit den Weinenden.
•    Seid eines Sinnes untereinander. 
•    Trachtet nicht nach hohen Dingen, sondern haltet euch herunter zu den geringen.  
•    Haltet euch nicht selbst für klug.

Aus meiner Sicht sind das Werte, die wir heute im Grunde genau so stehen lassen können. 
Und dazu noch: 
Mit Stolz auf und Eifer für Werte, die man anerkennt und versucht zu verwirklichen in der Gemeinde. 
Vielleicht ähnlich wie die Rotarier oder die Lions stolz darauf sind, etwas Gutes zu tun und dabei eine gewisse Elite zu sein. 

So wollten die das, die Christen damals: eine moralische Elite bilden, die Speerspitze des anbrechenden Reiches Gottes. 

Es ist ja auch nur verständlich: 
Wer einmal begriffen hat, dass man von Christus befreit und von Gott gerechtfertigt ist, der will automatisch dann auch die Heiligung des eigenen Lebens leben. 
Und darf sich dabei durchaus absetzen von denen, die nicht zum Club dazu gehören. 
Nicht im Sinne von Ausgrenzen, um Himmelswillen das nicht! 
Aber doch schon in einem Sinne, dass die Umwelt sieht, dass man sein Leben auf eine andere Art und Weise lebt als das alle anderen tun. 
Eben moralisch integrer. Oder zumindest bewusster.

So berichtet etwa der römische Historiker Plinius der Jüngere im Zusammenhang der von ihm geleitete Christenverfolgungen, dass diese Christen „sich mit einem Eid verpflichtet hätten, nicht etwa zu irgend einem Verbrechen, sondern zur Unterlassung von Diebstahl, Raub, Ehebruch, Treulosigkeit und Unterschlagung von anvertrauten Gut.“ (Zitiert nach: Merz/Theißen, Der historische Jesus, ³2001, S.87.)
Die Christen also eine Elite im Moralischen! 

Aber nun würden wir es uns wirklich zu leicht machen, wenn wir einfach meinen, wir nehmen die ethischen Maßstäbe des Paulus oder der Bibel und leben danach. 
Vergesst nicht: Diese ethischen Maßstäbe aus der heiligen Schrift sind Maßstäbe des ersten Jahrhunderts! 
Es gab keine Gentechnik und keine Informationsflut, es gab weder Atomkraftwerke noch Menschenrechte und eigentlich auch keine wirklichen Zivilgesellschaften (von ganz wenigen Ausnahmen einmal abgesehen). 
Die Welt war eine sehr andere.

Und so hat sich auch die Ethik und auch das, was wir für richtig oder falsch halten, in den letzten Jahrhunderten, den letzten Jahrzehnten, ja sogar den letzten Jahren, stetig weiter entwickelt und darüber auch verändert.  
Überlegt nur, wie rasch im vergangenen Jahr die „Ehe für alle“ durch das Parlament gegangen ist. 
Noch in den neunziger Jahren wäre das im Bundestag ziemlicher Sicherheit gescheitert. 
Und bis in die siebziger Jahre hinein wurde Homosexualität bestraft.
Vom Gefängnis hin zu Steuerklasse 3/5 bzw. 4/4.

Da hat sich moralisch in unserer Welt innerhalb kürzester Zeit ein so gewaltiger Wandel vollzogen, dass ich, würden ich etwa in die sechziger Jahre zurück reisen, die Menschen wahrscheinlich nicht mehr verstehen könnte. Und vermutlich  würde ich auch in allen möglichen Bereichen mit meinen Auffassungen zum Leben anecken.
Würde vielleicht als versponnener Hippie gelten; zum Pfarrberuf ungeeignet und moralisch nicht gefestigt genug.

Aber was bedeutet es nun für unsere Kirchengemeinde, zur moralischen Speerspitze zu gehören?
Was bedeutet es für uns, ein ethisch so gutes Leben zu führen, dass wir uns bereits durch einen guten Lebenswandel von den anderen absetzen?

Anders als in der antiken Welt lässt sich das gar nicht so einfach umreißen. 
Es reicht heute nicht länger aus, einfach nur ehrlich zu sein, das Böse zu hassen und das Gute zu lieben. 
Es reicht eben nicht aus, gastfreundlich zu sein und „eines Sinnes untereinander“ zu bleiben.
Das ist alles ganz prima und gehört halt zum guten Leben mit dazu. Es ist aber zur Definition unzureichend und außerdem doch alles nur Ausflüsse eines viel größeren Ganzen, der unser Maßstab sein muss.

Anders gesagt: diese Art von Moral, die Paulus da beschreibt, ist eben nicht für Christen exklusiv, sondern wird von fast allen Menschen der westlichen Demokratien für gut und richtig befunden. 
Und dazu kommt: Die Art von Moral, die Paulus da beschreibt, wurde von anderen, übrigens dann oft ungläubigen bzw. nicht-christlichen Geistern weit übertroffen.

Denkt etwa an Immanuel Kant mit seinem kategorischen Imperativ. 
Aber genauso auch an die verschiedenen Strömungen des angelsächsischen Utilitarismus. 
Oder die neue Vertragsethik von John Rawls. 
Die emotivistischen Strömungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die versucht haben, im menschlichen Gefühl die Grundlage der Ethik zu finden.
Die Verantwortungsethiken und Diskursethiken.
Und dergleichen mehr in der Philosophie.

Was also ist das Besondere, wenn man heutzutage als Christ ethisch und moralisch sauber agieren möchte?
Ich kenne nur eine Antwort: Es ist der Heilige Geist!

Es ist eine besondere, geisterfüllte Lebenshaltung, die uns Christen zu Menschen der Tat und nicht nur des Wortes macht. (Vgl. im Folgenden: Johannes Fischer, Theologische Ethik, 2002, S. 313.)
Anders als für Nichtgläubige ist unser Wirklichkeitsverständnis eigentümlich gebrochen. Im christlichen Wirklichkeitsverständnis verbindet sich Geschichtliches und Mythisches. 
Etwas, das sich auf dem Zeitstrahl der Weltzeit vor 2000 Jahren ereignet hat, ist allgegenwärtig als ein Geschehen, das irgendwie auch ‚immer ist‘. 
Die Christen haben daher Anteil an zwei Räumen, dem Raum der vor Augen liegenden Welt und dem Raum der Allgegenwart Gottes. 
Dabei ist es von entscheidende Bedeutung, diese beiden Räume unserer Wirklichkeitserfahrung gleichzeitig nicht vermischt und trotzdem aufeinander bezogen, das eine sogar das andere bestimmend, zu denken. 
Nur dann wird die Welt unverstellt so wahrgenommen, wie sie wirklich ist. 
Und nur dann wird ebenso unverstellt mit der Gegenwart jenes Geschehens gerechnet, die Welt in dessen Licht gesehen.
Und wenn man die Welt mit diesen Augen sieht, dann gibt dies einer christlichen Ethik seine eigentümliche Prägung. 
In einer christlichen Ethik verbinden sich dann nämlich Realitätssinn und Spiritualität. 
Aufgabe einer theologischen Ethik ist es dann, das christliche Leben und Handeln in beiden Hinsichten zu orientieren.

Was den Realitätssinn angeht, so hat eine theologische Ethik Anteil an der ganz profanen, wissenschaftlich informierten Sicht der Welt. 
Ganz wichtig ist dabei, dass der Aberglauben abgewehrt werden muss, wir könnten für die heutige Realität in der Bibel konkrete und direkte Handlungsmaßstäbe entdecken. 
Wie gesagt, die Ethik von Paulus ist nun auch schon etwas in die Jahre gekommen. 
Sie kann für uns gelten, muss sie aber nicht!

Kurz und gut, wenn du der Meinung bist, dass Immanuel Kants Ethik die beste Ethik für dich ist, dann lebe diese doch einfach. 
Wenn du den Utilitarismus als moralisch stärkste Ethik begreifst, nur zu! 
Es geht hier ja nur um die vor Augen liegende Welt!
Paulus hat´s schon genauso gemacht und sich bei seiner Ethik bei der griechisch-römischen Popularethik bedient.

Was aber die zweite Hinsicht betrifft, die Spiritualität (oder den Glauben), so befindet sich die theologische Ethik hier in Spannung und Gegensatz zu einem rein profanen Verständnis der Wirklichkeit, weil der reine Realitätssinn eben kein Sensorium für eine spirituelle Dimension (oder den Glauben) hat. 

Was wir als Christen brauchen, ist der ungezwungene Blick für die Realitäten der Welt – und zugleich diese geistliche Dimension christlicher Existenz.
Es liegt dann tatsächlich in der Freiheit des Einzelnen, nach genau der Ethik zu leben, die ihm als die Angemessenste erscheint – solange der Glauben an Jesus Christus nicht aus den Augen gerät!
Und das ist dann auch das glatte Gegenteil von Beliebigkeit, sondern vielmehr ein echtes Ringen um das wahre Leben!

Denn jeder einzelne macht das dann auch tatsächlich mit seinem eigenen Gewissen aus – und verlässt sich dabei intuitiv auf ein gutes Handeln, das er als vom Heiligen Geist gegeben glauben darf.
 
Nach wie vor entscheidend für unser Leben hier in der Gemeinde genauso wie in der Welt bleibt dann übrigens nicht die Tugend-Tabelle des Paulus, sondern die alles überbietende dreifache Weisung von Jesus selber: 
„Liebe Gott!“ Und: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“
Hierin sind diese beiden Dimensionen christlicher Ethik verwirklicht.
Wo so gelebt wird, da ist der Geist Gottes am Werk.

Und meine Schüler? 
Denen helfen immer noch klare Regeln am besten! 🙂 
Amen!
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

LIED EG 412,1-4: SO JEMAND SPRICHT: „ICH LIEBE GOTT“