14. Sonntag nach Trinitatis 2011: Das Messiasgeheimnis im Markusevangelium

Von Pfarrer Marvin Lange

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus

und die Liebe Gottes

und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes

sei mit euch allen.


TXT: Mk 1,40-45: Die Heilung eines Aussätzigen

40 Und es kam zu ihm ein Aussätziger, der bat ihn, kniete nieder und sprach zu ihm: Willst du, so kannst du mich reinigen.

41 Und es jammerte ihn, und er streckte die Hand aus, rührte ihn an und sprach zu ihm: Ich will’s tun; sei rein!

42 Und sogleich wich der Aussatz von ihm, und er wurde rein.

43 Und Jesus drohte ihm und trieb ihn alsbald von sich a

44 und sprach zu ihm: Sieh zu, daß du a niemandem etwas sagst; sondern geh hin und zeige dich dem Priester und b opfere für deine Reinigung, was Mose geboten hat, ihnen zum Zeugnis.

45 Er aber ging fort und fing an, viel davon zu reden und die Geschichte bekanntzumachen, so daß Jesus hinfort nicht mehr öffentlich in eine Stadt gehen konnte; sondern er war draußen an einsamen Orten; doch sie kamen zu ihm von allen Enden.

  1. Der Mensch: Ein Schwätzer

Das kennt man doch gut. Man macht etwas, will aber nicht so gern, dass es bekannt wird. „Lass mal“, sagt man dann, „ich hätte lieber, dass das unter uns bleibt.“ Und dann verbreitet sich das Geschehene wie ein Lauffeuer. Ich sag noch: Erzähl´s  nicht weiter!“ und am nächsten Tag weiß es der ganze Freundeskreis. Die Nachbarschaft. Das Dorf.

Woran liegt das?

Menschen schwätzen gern. Sie erzählen sich Dinge gern weiter, die sie eigentlich nicht unbedingt etwas angehen.

Bilder steigen auf: „Die Frau Meyer, die hat für die Orgel der Bonhoeffergemeinde ein ganzes Register gespendet, für 10.000€, aber erzähl´s keinem weiter, die will lieber anonym bleiben!“

Andere Bilder: Das von meiner geschwätzigen Nachbarin von früher.

Das von dem gehörnten Ehemann, der als Einziger nicht weiß, dass ihn seine Frau betrügt.

Das Bild eines Gerüchtes, das uns zu Ohren kommt. Das wir kaum glauben können. Und gerade deshalb erzählen wir es weiter.

Der Mensch. Ein Schwätzer.

2. Messiasgeheimnis

Jesus will nicht, dass zu viele auf ihn aufmerksam werden. Er fährt den frisch geheilten an: „Hau ab und erzähl es keinem! Zeige dich nur dem Priester und vollziehe das vorgeschriebene Opfer!“

Jesus weiß: Gott hat den Aussatz besiegt und nicht er selbst. Also soll der nun Geheilte sich so verhalten, wie es dem Gesetz in Leviticus 14 entspricht. Einen Vogel opfern, einen Vogel freilassen. Den Ritus vollziehen. Nicht Jesus selbst steht im Mittelpunkt seines Tuns, sondern Gott. Ärgerlich für Jesus, dass nun alle auf ihn zeigen.

Hat Jesus noch nicht begriffen, dass er selbst auch Gott ist?

Wer hat da was wohl nicht verstanden?

3. Freudenschreie

Der hat mich geheilt.

Der hat das geschafft, was undenkbar war.

Mein verfaultes Fleisch ist wieder fest.

Meine schuppige Haut ist wieder glatt.

Meine Gliedmaßen kann ich wieder bewegen.

Jesus hat die Lepra besiegt. Oder Gott. Oder beide. Oder welche Macht auch immer.

Jesus hat nur ein Wort gesagt: katharísthäti! Sei rein!

Ich bin der glücklichste Mensch der Welt.

Gleich gehe ich nach Hause zu meiner Familie und zu meinen Freunden.

Ob meine Frau mich noch liebt?

Ob meine Kinder mich erkennen?

Ich freue mich ja so.

Und ich bin ihm unglaublich dankbar.

Ich könnte die ganze Welt umarmen, denn jetzt bin ich gesund!

4. Jesus der Kautz

Er ist ja schon ein seltsamer Kautz, dieser Jesus. Kaum heilt er mich, schon jagt er mich fort.

Gleich zu den Priestern soll ich gehen.

Opfer darbringen.

Die Priester haben mir doch gar nicht geholfen!

Jesus hat geholfen!

Alle sollen das wissen: Da ist einer, der wirklich helfen kann!

Sagt es allen Kranken weiter!

Sollte Jesus wirklich gesagt haben, dass ich darüber Stillschweigen wahren soll?

Er ist ja schon ein seltsamer Kautz, dieser Jesus…

5. Die Geheimnistheorie im Markusevangelium

Um das Markusevangelium zu verstehen, kann es hilfreich sein, sich eine Entstehungstheorie dieses Evangeliums anzuschauen.

Was trieb den Evangelisten, das Evangelium so aufzuschreiben, wie wir es heute lesen können?

Es sind einige Merkmale, die uns auf eine Fährte führen können.

Im Markusevangelium ermahnt Jesus Leute immer wieder dazu, über dies und das Stillschweigen zu bewahren.

Geheimniskrämerei ist ein typisches Merkmal, das das Markusevangelium durchzieht.

Bei einigen Heilungen ermahnt er die Geheilten, Stillschweigen zu bewahren, so etwa bei unserem Aussätzigen aus dem heutigen Predigttext.

Die Dämonen erkennen ihn: Ihnen gebietet er gleich zu Beginn des Evangeliums mit dem Wirken Jesu in Kapernaum (1,21ff.), sie sollten ihn und seine Mission keinem verraten.

Auch von den Jüngern verlangt er, dass sie über das wahre Sein Jesu als Gottessohn niemandem etwas sagen sollen.

„Je mehr er es aber verbot, desto mehr breiteten sie es aus.“ (Mk 7,36).

Sogar als Petrus ihm gegenüber – übrigens genau auf der Hälfte des Evangeliums im Kapitel 8 – bekennt, dass Jesus der Christus sei, will Jesus nicht, dass das weiter bekannt wird.

Erst nach der Auferweckung von den Toten, nach Kreuz und Auferstehung sollten alle weitererzählen, was sie gesehen haben.

Und noch etwas kann man herauslesen:

Weder die Jünger, noch die „normalen“ Zuhörer verstanden Jesus wirklich.

Auf die Leidensankündigung in Mk 8,31ff. reagiert Petrus mit einer Abwehr, die das völlige Unverständnis zeigt, und die Gleichnisse in Kapitel 4 zeugen davon, dass das Volk sie nicht versteht.

Also: Schweigegebote auf der Seite von Jesus – Unverständnis auf der Seite der übrigen Menschen.

Warum dieser Aufwand?

Der Evangelist Markus schrieb sein Evangelium um 70 n.Chr.

Das heißt, etwa 40 Jahre nach der Kreuzigung.

Den irdischen Jesus wird er kaum gekannt haben.

Vielmehr schöpft er aus verschiedenen Quellen, die ihm vorlagen. Mündliche wohl wie schriftliche.

Auffällig ist, dass die Wunder Jesu eigentlich ziemlichen Eindruck gemacht haben müssten.

Das heißt, Markus war klar, dass zwischen dem Erzählten von Jesus (nämlich: mit Macht über die Dämonen, Krankheiten, das Wetter [etwa Stillung des Sturmes] und Speisung von 5000 Menschen)  und der Wirkung, die davon ausging, eine hohe Diskrepanz, ein großer Graben liegt.

Wenn dieser Jesus diese gewaltigen Taten in der Öffentlichkeit vollbracht hat, dann hätten sich schon zu Lebzeiten unglaubliche Anhängerscharen bilden müssen.

Dann hätte die Mehrzahl der Juden ihn als den Messias anerkennen müssen, weil er eben über Kräfte verfügen konnte, die zweifellos göttlichen (oder zumindest übernatürlichen) Ursprungs waren.

Schon zu Lebzeiten Jesu´  hätte es gewaltige Menschenmassen geben müssen, die ihm nachfolgten.

Das war aber nicht der Fall.

Nicht in der Zeit des Wirkens des irdischen Jesus.

Da wird von den Zwölfen gesprochen, von einigen weiteren Jüngerinnen und Jüngern, immerhin von 72 Jüngern, die er im (später verfassten) Lukasevangelium aussendet.

Und auch nach der Auferstehung verbreitet sich das Christentum zwar schneeballsystemmäßig, aber doch eher langsam und mit Hindernissen.

So dass zur Entstehungszeit des Markusevangeliums zwar in jedem Winkel des römischen Reiches kleine christliche Gemeinden vorhanden waren, aber von einer Reichs- oder gar Weltreligion war man doch weit entfernt.

Der Evangelist merkte diesen Bruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit.

Und ihm war bekannt, dass sich die Wunder eher im Verborgenen abgespielt haben sollen.

So wurde für ihn – vielleicht beim Verfassen des Evangeliums, wahrscheinlich aber schon früher – immer deutlicher, dass Jesus erst nach Kreuz und Auferweckung in der Welt bekannt werden wollte.

Wahrscheinlich kannte der Evangelist die Briefe des Paulus und die in ihnen ganz starke Kreuzestheologie.

Durch Kreuz und Leid wurde die Welt – wurden wir alle! – erlöst.

Nicht die großmächtigen Einzelwunder sind es, die uns zu Gott und zum Ewigen Leben bringen, sondern die Tatsache, dass Gott Mensch wurde und bis zum Äußersten ging und er den Tod alles Irdischen starb.

Wahrscheinlich kannte Markus diese Theologie, die in krassem Gegensatz zu dem mächtigen Gottesmann Jesus steht, der von Wunder zu Wunder eilt und über Legionen von Engeln und Dämonen gebieten kann.

Da passte es, diesen Geheimniskomplex aufzunehmen und noch auszubauen.

Ein fortwährendes Ineinander von Hoheit und Niedrigkeit, von Offenbarung und Verbergung begegnet uns beim Wirken Jesu im Markusevangelium.

Stillschweigen und laut verkünden – über die Elemente gebieten und von den Soldaten verspottet werden. Beides beobachtet man im Evangelium deutlich. Beides gilt es auch auszuhalten.

Was bleibt für uns?

Wir können Markus in einem schon einmal zustimmen:

Darin nämlich dass auch wir nicht wirklich verstehen, wie das sein kann:

Jesus ist Gott und Mensch zugleich. Und Kreuz und Leid sind der Schlüssel zum Verständnis des Wirkens von Jesus, nicht seine Wundertaten.

Insofern sind wir, wenn wir da einstimmen können, sogar ein wenig weiter als die Jünger.

Aber ich für mich kann nur sagen, dass ich aus diesem Glaubenswissen immer wieder herausfalle und den Wundermann Jesus dem Gekreuzigten immer wieder vorziehe. Und damit lebe auch ich noch in großem Unverständnis.

Wir können außerdem dem Markus darin zustimmen, dass der heutige Predigttext nur vor dem Hintergrund vom Ende her, von Kreuz und Auferstehung her, verstanden werden kann.

Denn hinterher, nach der Auferstehung, da sollten ja die Jünger in alle Welt gehen und das Evangelium verkündigen.

Wenn wir so auf das große Ganze schauen, dann geht es nicht mehr bloß darum, dass sich einer einmal darüber gefreut hat, dass er geheilt ist. Und wir am liebsten auch so einen Arzt hätten.

Es kann uns heute auch nicht darum gehen, dass man über seine Heilung Stillschweigen wahrt:

Sondern es geht darum, dass Jesus sich durch Kreuz und Auferweckung allen Menschen zuwendet:

Mehr noch als dem Aussätzigen wendet er sich dir zu! Und dir! Und dir! Und dir!

Nämlich insofern als dass er dir und der ganzen Menschheit zuruft: katharisthäti!

„Sei rein!“

Amen.

Und der Friede Gottes,…