Von Propst Bernd Böttner
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen. Amen
Predigttext Apostelgeschichte 3, 1 – 10:
1 Petrus aber und Johannes gingen hinauf in den Tempel um die neunte Stunde, zur Gebetszeit.
2 Und es wurde ein Mann herbeigetragen, lahm von Mutterleibe; den setzte man täglich vor die Tür des Tempels, die da heißt die Schöne, damit er um Almosen bettelte bei denen, die in den Tempel gingen.
3 Als er nun Petrus und Johannes sah, wie sie in den Tempel hineingehen wollten, bat er um ein Almosen.
4 Petrus aber blickte ihn an mit Johannes und sprach: Sieh uns an!
5 Und er sah sie an und wartete darauf, dass er etwas von ihnen empfinge.
6 Petrus aber sprach: Silber und Gold habe ich nicht; was ich aber habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi von Nazareth steh auf und geh umher!
7 Und er ergriff ihn bei der rechten Hand und richtete ihn auf. Sogleich wurden seine Füße und Knöchel fest,
8 er sprang auf, konnte gehen und stehen und ging mit ihnen in den Tempel, lief und sprang umher und lobte Gott.
9 Und es sah ihn alles Volk umhergehen und Gott loben.
10 Sie erkannten ihn auch, dass er es war, der vor der Schönen Tür des Tempels gesessen und um Almosen gebettelt hatte; und Verwunderung und Entsetzen erfüllte sie über das, was ihm widerfahren war.
Liebe Gemeinde!
Schritt für Schritt, Stufe um Stufe gehen Petrus und Johannes hinauf zum Tempel in Jerusalem. Im hellen Sonnenlicht nehmen sie den Weg, es ist fünfzehn Uhr am Nachmittag, sie wollen zu der zweiten von den drei Gebetszeiten im Tempel. So wie sie es gewohnt sind als fromme Juden. Petrus, der Ältere, und Johannes, der Jüngere, haben sich von Jesus rufen lassen in seine Nachfolge und berufen lassen zu Aposteln, zu Botschaftern der guten Nachricht. Ausgerüstet mit dem heiligen Geist haben sie frei und mutig in Jerusalem öffentlich gepredigt und getauft auf den Namen Jesu Christi. Und doch gehen sie weiterhin auf den vertrauten Pfaden des Glaubens, in dem sie von ihren Müttern und Vätern erzogen worden sind.
Denselben Weg wurde wahrscheinlich schon am frühen Morgen ein Gelähmter getragen, vielleicht von Freunden oder auch von seiner Familie. An einem Eingang zum Tempel, an der Schönen Pforte, haben sie ihn abgesetzt, damit er um Almosen bettelt. Das scheint ein guter Platz zu sein. Hier geben die Leute ordentlich. Wer lässt sich auf dem Weg zum Gottesdienst nicht anrühren von dem Leid der anderen? Auf dem Weg zum Gebet wird man empfindlich, wer sein Herz für Gott öffnet, verschließt es nicht so leicht seinen Mitmenschen.
So wird es auch Petrus und Johannes gegangen sein, als sie auf dem Weg zur Schönen Pforte die weniger schöne Gestalt davor in den Blick genommen haben. Vielleicht sind ihnen auch noch andere Gedanken durch den Kopf gegangen, die auch uns – Hand aufs Herz – manchmal durch den Kopf gehen: Muss man diese Situation so schamlos ausnutzen? Ich fühle mich genötigt, etwas zu geben, ohne dass ich wirklich prüfen kann, ob der andere es nötig hat. Wären da nicht andere Hilfen viel notweniger? Aber die jetzt anzusprechen, dafür ist keine Zeit – und dann könnte das ja auch noch so ausgelegt werden, als wolle ich nicht wirklich helfen und mich nur herausreden.
Also was tun? Das Gesangbuch fester fassen, schneller gehen und so tun, als habe man nichts gesehen? Oder schnell einen Euro geben und dann weiter?
Weder das eine noch das andere tun Petrus und Johannes. Die beiden bleiben stehen, halten der Situation stand und sehen hin. Der Mensch am Boden merkt, da stehen ihm welche im Licht. Er hört sich die Worte sagen, die er immer sagt. Er sieht abwechselnd auf die Hände der beiden und in seine Mütze. Was er sieht und wahrnimmt, das sind die potentiellen Spender. Aber das vertraute Geräusch einer fallenden Münze bleibt aus. Kein Nesteln am Geldbeutel, kein Münzengeklimper. Stattdessen ein Moment der Stille, diese Blicke und dann die Worte: „Sieh uns an!“
Was soll denn das? Sonst bemerken ihn die Passanten schon von weitem, holen das Geld hervor und lassen es offensichtlich oder auch dezent in die Mütze fallen.
Wollen die beiden ganz sicher gehen, dass ich sie in ihrer gönnerhaften Pose wahrnehme? Springt da jetzt mehr heraus als sonst? Wird das ein guter Tag heute? Oder doch nicht? Also kein Geld? Vielleicht sogar eine Beschimpfung oder eine sachliche Begründung für das Nichtsgeben?
Es kommt alles ganz anders. Und es beginnt mit dem Hinsehen und Ansehen. Im Hinsehen und Ansehen kommt der Gelähmte als Mensch in den Blick, seine ganze Person, sein ausdruckloses Gesicht, seine blinzelnden Augen, aber auch die wenigen Hoffnungsfunken über dem großen Ozean der Resignation, seine bescheidenen Erwartungen und sein Wunsch, dass die anderen mehr in ihm sehen können als nur den, der schon mit einem Almosen zufrieden gestellt werden kann.
Alles das kann aber nur dann in ihm und an ihm wahrgenommen werden, wenn er wirklich in den Blick genommen wird, wenn da eine Beziehung hergestellt wird zwischen ihm und den anderen, wenn die, die sich hier begegnen, wirklich die Konfrontation aushalten, auch die Konfrontation mit einer möglichen Veränderung, die nicht ohne Folgen bleiben wird, weder für die, die wirklich helfen wollen, noch für den, dem geholfen werden soll.
Und dann spricht Petrus die denkwürdigen Worte: „Gold und Silber habe ich nicht. Aber was ich habe, gebe ich dir!“
Ob Petrus sich in diesem Moment erinnert hat an ein Lehrstück, das die Jünger mit Jesus hatten? 5000 waren Jesus nachgefolgt an einen einsamen Ort. Jesus hatte dort vom Reich Gottes gepredigt. Es war Abend geworden und die Leute hatten Hunger. Die Jünger sahen keine Möglichkeit, den Menschen zu Essen zu geben und forderten Jesus auf: „Schick sie weg!“ Doch Jesus tut ihnen diesen Gefallen nicht, vielmehr fordert er sie auf: „Gebt ihr ihnen zu essen!“ Jetzt besinnen sich die Jünger auf die Ressourcen besinnen, die vorhanden sind. Sie sind nicht gerade üppig, aber sie sind vorhanden: Fünf Brote und 2 Fische. Im Teilen vermehrt sich das Wenige und reicht am Ende für alle.
Das Geld war Petrus und Johannes offensichtlich ausgegangen. Mit frommen oder schlauen Worten können sie den Gelähmten auch nicht abspeisen. Also besinnen sie sich auf eine andere Ressource, auf einen Namen, genauer gesagt auf den Namen Jesus Christus.
Das ist weder der Name eines berühmten Orthopäden noch eines bekannten alternativen Mediziners. Jesus Christus ist der Name des Nazareners, dem sie nachgefolgt sind. Später wird Petrus mehr von Jesus erzählen, was er gepredigt und getan hat, dass er gekreuzigt wurde und auferstanden ist. Dieser Jesus hat auch dem Gelähmten die Kraft gegeben aufzustehen, auf seinen eigenen Füßen zu stehen, erste Schritte zu gehen und schließlich sogar zu tanzen und zu springen.
Petrus erinnert sich an eine Ressource, über die er nicht einfach verfügen kann und die er dennoch aufruft. Er selbst ist es nicht, der wirkt was hier geschieht. Gott selbst ist es, der gesund machen kann, der Leben und Sterben in der Hand hält.
Was wäre geschehen, wenn der Gelähmte trotz der Aufforderung, trotz des großen Glaubens der beiden Apostel nicht hätte aufstehen können? Das ist eine berechtigte Frage, die wir uns oft genug stellen in anderen Situationen unseres Lebens: Warum Gott, greifst du nicht ein? Warum lässt du Menschen nicht gesund werden, so wie wir es uns wünschen.
Das ist eine berechtigte Frage, die uns aber jetzt davon abbringt zu sehen, was hier geschehen ist: Jahrelang hat der Kranke an der Schwelle verbracht, ohne dass er den heiligen Ort selbst betreten konnte. Jetzt kann er den Tempel selbst betreten und mit den anderen Gott loben. Die anderen wundern sich: In Gottes Namen helfen, ja natürlich, aber wirklich gesund werden, geht das nicht zu weit? Ist das nicht überzogen? Soll man da nicht lieber auf dem Teppich bleiben?
Gut, dass Petrus und Johannes einmal nicht so gedacht haben, sonst säße der Lahme immer noch auf seinem Teppich vor der schönen Pforte und wäre nicht hindurch gekommen, hätte nicht erfahren können, dass Glaube und Kirche nicht nur etwas für Gesunde sind, sondern für alle.
Ich weiß wohl um die Bedeutung des Geldes, dass es vielen Notleidenden in unserem Land und erst Recht in unserer Welt gerade daran fehlt. Nicht zuletzt auch, um den Arzt oder Medikamente zu bezahlen. Almosen allein können einen Menschen nicht wirklich heilen, schon eher, dass Menschen einander ansehen mit den Augen Gottes, als Geschöpfe Gottes, als Schwestern und Brüder Jesu, in dessen Namen Heil zu finden ist, Heil, das weit mehr ist als Gesundheit, das aber auch dazu führen kann, dass Menschen gesund werden.
Mit diesen Gedanken bin ich, liebe Gemeinde, längst bei dem Namensgeber ihrer Gemeinde und ihres Hauses: Dietrich Bonhoeffer. In seinem Buch „Gemeinsames Leben“ beschreibt er wie der andere mir durch Christus zum Bruder wird, wie die andere mir durch Christus zur Schwester wird und wie sich dadurch unsere Beziehung grundlegend verändert.
Weitere Beziehungen zwischen dem Leben und Wirken Bonhoeffers und unserem heutigen Predigttext lassen sich aufzeigen.
„Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andre da ist“, schreibt er in seinen Briefen und Aufzeichnungen aus der Haft, „… sie muss an den weltlichen Aufgaben des menschlichen Gemeinschaftslebens teilnehmen, nicht herrschend, sondern helfend und dienend“.
Bonhoeffer hat diese Einstellung gelebt, er hat sie sich hart erarbeiten müssen. Im Herbst 1931 hat der junge Pfarrer und Privatdozent auf Anweisung der vorgesetzten Kirchenbehörde eine verwilderte Konfirmandenklasse im Arbeiterviertel Prenzlauer Berg in Berlin übernommen. „Das ist so ungefähr die tollste Gegend von Berlin mit den schwierigsten sozialen und politischen Verhältnissen“ schreibt er und fährt fort: „Anfangs benahmen sich die Jungen wie verrückt..“ Es ist spannend nachzulesen, wie Bonhoeffer, der aus gelehrtem und reichem Haus kommt, das Vertrauen dieser Jungen gewinnt. Das ist alles andere als ein für die damalige Zeit klassischer Konfirmandenunterricht. Moderne Erlebnispädagogen können staunend zur Kenntnis nehmen, dass er mit ihnen Fußball spielt, Ausflüge unternimmt, Schach spielt und Englisch lernt. Vor der Konfirmation besorgt er einen Ballen Stoff, von dem jeder seiner Jungs so viel bekommt, dass es für einen Anzug reicht.
Bonhoeffer, weiß, dass er die der Kirche entfremdeten Kinder nicht einfach in die Kirche zurückholen kann, sondern dass er mit ihnen auf eine ganz unkirchliche Weise Kirche sein und leben muss.
Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten, schon im Frühjahr 1933 hält Bonhoeffer einen Vortrag, in dem er ausführt, dass die Kirche den Opfern jeder Gesellschaftsordnung in unbedingter Weise verpflichtet ist, auch dann, wenn sie nicht der christlichen Gemeinde angehören. Darüber hinaus ist die Kirche aber nicht nur verpflichtet, die Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu fallen.
Für Bonhoeffer gehört zusammen, was uns in unserem Predigttext bei Petrus und Johannes begegnet: Es beginnt mit einem Blick, es folgt das Wort und schließlich die Tat. Es geht um den ganzen Menschen, ihn mit den Augen Gottes zu sehen. So wird es möglich ihn in seiner Situation wahrzunehmen und anzusprechen mit dem Wort, das helfen und heilen kann und das Menschen verändern kann.
So für andere in der Gemeinde und darüber hinaus da zu sein, das können wir, wenn unser Glaube Kraft schöpft aus dem Gebet und aus der Gemeinschaft, die sich aus den Quellen speist, die Petrus und Johannes im Tempel, im Gebet, im Gottesdienst suchen.
Das Bonhoeffer-Haus ist seit 40 Jahren ein Haus des Gebetes, des Gottesdienstes, der Gemeinschaft, die vielfältige Formen weit über den klassischen Gottesdienst hinaus gefunden hat und immer neu findet – so wie in dem Glaubenskurs, der in der nächsten Woche hier beginnt und für den zum Schluss des Gottesdienstes noch einmal eingeladen wird.
Ich wünsche auch in Zukunft Gottes Segen für dieses Haus, allen die hier ein- und ausgehen, dass sie hier finden, was sie suchen, Hoffnung und Trost, Stärkung und Orientierung – und noch viel mehr, Unerwartetes und Heilsames, das ihr Leben verändert, so dass sie laufen, springen, tanzen können, hier drin und draußen – ganz egal ob auf den eigenen Füßen oder im Rollstuhl, ob blind oder sehend, Frau oder Mann, alt oder jung, evangelisch oder katholisch. Amen
Propst Bernd Böttner, An der Ochsenwiese 14, 63450 Hanau