1. Advent 2012: Die Tore zum Leben

Predigt zu Ps 24 (Textlesung im Gang der Predigt.)

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt.

Jakob der Schmied nähert sich gemeinsam mit seiner Frau und einigen Freunden aus seiner Heimatstadt dem „Schönen Tor“ zum Hof des Tempels in Jerusalem. Mehrere Tage sind sie  gewandert, um endlich zum Heiligtum zu kommen. Ihre Kleidung ist staubig, auf ihren Gesichtern glänzt der Schweiß.


Doch in ihren Augen die Freude, endlich das Ziel erreicht zu haben; endlich durch das Tor des Tempels zu schreiten; Gott dem HERRN die vorgeschriebenen Opfer darzubringen; sich von SEINER Gegenwart anstecken zu lassen; zu IHM zu beten; seine Herrlichkeit zu rühmen und zu preisen. Einzuziehen mit all den anderen Gläubigen – Pilgerern aus ganz Israel!

Die Stadt ist voller Menschen. Einzeln und in kleineren Gruppen strömen sie zu dem Ort, an dem SEIN Gottesname wohnt.

Voller Erwartung stehen sie vor dem Tor.

Ein Priester empfängt sie. Mit Ernst schaut er die kleine Schar an und redet sie an mit den alten Worten aus dem Psalm:

„Die Erde ist des Herrn und was darinnen ist, der Erdkreis und die darauf wohnen. Denn er hat ihn über den Meeren gegründet und über den Wassern bereitet.“

Jakob der Schmied und seine Gefährten verneigen sich. Jakobs Augen leuchten, als er die Bitte um den Einlass spricht:

„Wer darf auf des Herrn Berg gehen, und wer darf stehen an seiner heiligen Stätte?“

Der Priester blickt allen forschend ins Gesicht. Langsam, einem nach dem anderen. Dann lächelt er und verkündet:

„Wer unschuldige Hände hat und reinen Herzens ist,

wer nicht bedacht ist auf Lug und Trug und nicht falsche Eide schwört: der wird den Segen vom HERRN empfangen und Gerechtigkeit von dem Gott seines Heiles.“

Und die Pilgergruppe murmelt gemeinsam im Chor: „Das ist das Geschlecht, das nach ihm fragt, das da sucht dein Antlitz, Gott Jakobs.“

Der Priester tritt zur Seite, das Portal der Pilger zum Vorhof des Tempels öffnet sich, die Pilgerschar tritt hindurch.

Riesig ragen die Tore des Allerheiligsten auf, verziert mit den schönsten Farben, mit Blattgold und Silber.

„Wie schade“, denkt Jakob der Schmied, „dass diese Tore wohl niemals für uns geöffnet werden!“

Rebekka steht am Wegesrand. Sie hat davon gehört, dass dieser Verrückte in die Stadt kommen soll. Jesus aus Nazareth, der Sohn eines Zimmermanns, den manche neuerdings als Messias bezeichnen, obwohl er bloß eine kleine zerlumpte Jüngergruppe um sich geschart hat. Nicht einmal ein Heer kann der angebliche Davidssohn aufweisen. „Es sind einfach zu viele Messiasse in letzter Zeit gekommen“, denkt sie. „Wenn Gott seinen Messias wirklich senden wird, dann werden die Menschen das merken. Dann werden alle Türen im Tempel für alle Menschen weit geöffnet werden, dann wird die Welt selber eine Tür zum Himmelreich haben!“

Rebekka blickt die Straße hinunter. Die Menschenmenge ist laut und die Luft stinkt sogar noch mehr als sonst. Zu dem üblichen Geruch nach Abwässern und Kot mischt sich nun der Schweiß der Bewohner von Jerusalems, die ihre Arbeit niedergelegt haben, um diesem Jesus nachzugaffen. Sie selber hat sich auch aufgemacht.

„Wir werden ja sehen, ob der der Messias ist!“

Die Zeit vergeht, und die Hitze des Tages nimmt zu.

Um sie herum hört sie die merkwürdigsten Geschichten. Dass Jesus Wasser in Wein verwandelt habe. „Na, zum Glück nicht Wein in Wasser“, kontert sie messerscharf. Dass er Menschen geheilt habe, die unheilbar krank waren. Dass er sogar einen Toten in Bethanien wieder lebendig gemacht habe, obwohl der schon im Grabloch vor sich hin faulte. „Deswegen stinkt es hier wohl so“, neckt sie den Erzähler, der sie daraufhin zornig anstarrt.

Kein Wort will sie glauben. Rebekkas Herz ist hart. „Erst wenn meine Tochter wieder lebendig ist, erst wenn mein Mann wieder zu mir zurückkehrt und erst wenn die Römer das Land verlassen haben – dann weiß ich, dass der Messias gekommen ist. Soviel Unglück – Gott kann doch nicht in so eine kaputte Welt kommen.“

Das Geschrei der Menge wird lauter. „Hosianna!“ brüllen die Menschen. „Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn!“

Und auf einmal steht Jesus vor ihr.

Seinem Blick kann sie nicht standhalten. Die Freundlichkeit seiner Augen ist unendlich. Solche Güte hat sie noch niemals in einem Gesicht gesehen.

„Rebekka“, sagt er zu ihr. In ihrem Kopf pocht es.

Ihr Herz schlägt höher.

Sie weiß nicht, wie ihr geschieht. Sie fällt auf ihre Knie, umfasst seine Hand. Sie hört den Lärm der Straße nicht mehr, den Gestank nimmt sie nicht mehr wahr.

Sie weiß nicht, was sie sagen soll, aber das macht nichts. Denn Jesus selbst richtet das Wort jetzt an sie:

„Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehre einziehe!“

Rebekka weiß nicht, was sie sagen soll. Sie stammelt zurück:

„Wer ist der König der Ehre?“

Und Jesus antwortet ihr, aber so laut, dass alle Menschen im Umkreis es hören können:

„Wer ist der König der Ehre?

Es ist der HERR, stark und mächtig,

der HERR, mächtig im Streit.“

Jesus blickt in die Runde, schaut zum Tempelberg hinauf, zum Zion, und lässt seine Augen dann auf dem Berg der Gerichteten, auf dem Platz der Schädel, auf Golgatha ruhen. Mit einem leichten Anflug von Kummer auf seinem Gesicht ruft er der Menge zu:

„Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehre einziehe! Wer ist der König der Ehre? Es ist der HERR Zebaoth; er ist der König der Ehre.“

Eine Ewigkeit scheint vergangen zu sein, seitdem Rebekka vor Jesus niedergefallen war. Jetzt ist er weitergegangen, die Menschenmenge um sie herum schreit weiter ihr „Hosianna!“ und dieses „Gelobt sei der da kommt im Namen des Herrn!“

Rebekka steht auf, blickt unsicher um sich. Was war da in sie gefahren? Wie konnte sie sich nur so gehen lassen, sich von den Augen dieses Mannes verführen lassen?

Sie schüttelt den Kopf.

„Nein“, sagt sie laut und deutlich, „der hat mich nicht verführt. Der hat mir etwas Wichtiges gesagt!

Die Türen in der Welt sollen wir öffnen. Die Tore sollen wir weit machen. Das sollen wir tun, damit Gott einziehen kann.

Und Jesus meinte mit ‚Türen in der Welt‘ weit mehr als die Tore des Tempels oder die Türen einer Stadt.  Der ist vor mir stehen geblieben, weil er mich damit meinte. Und alle Menschen um sie herum.“

Rebekka geht weiter, läuft ziellos im Gewirr der Jerusalemer Gassen umher. Sie hat ja eigentlich noch so viel zu erledigen. Die Pilgergruppe müsste spätestens heute Nachmittag bei ihr im Gästehaus ankommen. Die würden von ihr frisches Brot verlangen. Eigentlich müsste sie jetzt backen. Und all die anderen Besorgungen für das große Fest!

Jakob der Schmied würde wieder mit seiner Familie bei ihr einkehren. Sie mochte den Mann gern und seine Frau mit den drei Kindern.

Da fällt ihr etwas auf: „Machet die Türen weit und die Tore in der Welt hoch“, hatte Jesus gesagt.

Nicht bloß der Ruf der Pilger und Priester beim Einzug im Tempel war das, sondern weit mehr:

Das war sie selber, die sich da öffnen sollte. Die Türen des Herzens waren gemeint.

Damit Gott in die Welt einziehen kann, müssen die Herzen der Menschen offen sein für ihn.

Auch für das, was unbequem ist, ja was ihnen sogar verhasst sein mag.

Sie denkt nach.

Konnte sie ihr Herz soweit öffnen und ihrem Mann vergeben? Konnte sie ihr Herz soweit öffnen und einen Römer bei sich zu Hause so freundlich willkommen heißen wie etwa Jakob, den Schmied?

Sie lächelt. Das würde vielleicht noch gehen. Aber ihre tote Tochter? Die machte ihr keiner mehr lebendig. Da kann man die Türen des Herzens noch so sehr öffnen, die Trauer wird ihr keiner jemals nehmen.

Und dann durchzuckt es sie und sie versteht, was Jesus meinte.

Jesus hatte ihre Tochter in dem Moment gemeint, als er zum Berg der Verurteilten, nach Golgatha hinaufgeblickt hatte.

Er hatte ihre Tochter gemeint und all die vielen Tränen, die Mütter und Väter vergießen, all die Traurigkeiten, die Menschen angetan werden und die sie sich gegenseitig antun.

Jesus würde auch als Messias das Leid nicht aus der Welt verbannen.

Er würde aber einen neuen Weg eröffnen, damit umzugehen.

Und dann lacht sie auf. Sie ist ja schon mitten dabei, in ihm den Messias zu sehen, den Sohn König Davids aus Jakobs Stamm!

Aber es hatte seine Logik: Wenn Gott der HERR in ihr Herz einzöge, dann wäre er auch dann da, wenn Leid und Unheil über ihr Leben kämen. Er wäre dann bei ihr, egal, was auch geschieht.

Rebekka schlendert nach Hause. „Wir werden ja sehen, ob du der Messias bist!“, flüstert sie in sich hinein, als sie die Tür ihres Hauses öffnet.

  3.

Einige Tage später kommt Jakob, der Schmied, wieder ins Gästehaus.

Rebeka denkt, er wolle sich nun verabschieden. Stattdessen sagt er mit belegter Stimme: „Sie haben ihn umgebracht! Dabei war ich fast davon überzeugt, dass er der Messias ist. Jetzt müssen wir doch auf einen anderen warten.“

Seine Frau legt ihm die Hand auf die Schultern.

„Weißt Du, Rebekka, der Mann war ohnehin nicht ganz richtig im Kopf. Als ich bei ihm saß und wir gemeinsam aßen, da sagte er doch allen Ernstes: ‚Ich bin die Tür; wenn jemand durch mich hindurchgeht, wird er selig werden.‘

Rebekka blickt auf, sie lächelt: „Ich glaube, mein lieber Jakob, die Geschichte mit Jesus ist noch nicht zu Ende. Da passiert noch etwas Entscheidendes.“

Und als Jakob sie verwirrt ansieht, spürt sie, wie der wahre Messias sich längst in ihrem Herzen Bahn gebrochen hat.

Das Warten hat ein Ende. Die Tore zum Leben sind geöffnet worden. Und niemand kann sie je wieder zuschließen.

Amen.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen.