1. Advent 2011 – Predigt in Gemeinschaftsproduktion mit Frank Nico Jaeger aus Tann

Predigttext Offenbarung 5,1-5:

Das Buch mit den sieben Siegeln
51 Und ich sah in der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß, ein Buch, beschrieben innen und außen, versiegelt mit sieben Siegeln.
2 Und ich sah einen starken Engel, der rief mit großer Stimme: Wer ist würdig, das Buch aufzutun und seine Siegel zu brechen?
3 Und niemand, weder im Himmel noch auf Erden noch unter der Erde, konnte das Buch auftun und hineinsehen.
4 Und ich weinte sehr, weil niemand für würdig befunden wurde, das Buch aufzutun und hineinzusehen.
5 Und einer von den Ältesten spricht zu mir: Weine nicht! Siehe, es hat überwunden der Löwe aus dem Stamm Juda, die Wurzel Davids, aufzutun das Buch und seine sieben Siegel.


Liebe Gemeinde,

der Predigttext aus dem heutigen Johannesoffenbarung will zunächst erst einmal gar nicht so recht zu dem Anlass heute Morgen passen: Der 1. Advent, besinnliche Stimmung und der Beginn der Aktion Brot für die Welt. Wenn man in der Johannesoffenbarung liest, dann muss man achtsam sein: Blickt man da doch in die Gedankenwelt eines religiösen Genies. Und Genie und Wahnsinn, das liegt oftmals dicht beisammen. Manch einem mag es so vorkommen, als Blicke er durch die Mauern eines Irrenhauses, wenn er in dieser Offenbarungsschrift herumstöbert.

Einen noch recht harmlosen Ausschnitt haben Sie gerade gehört. Der Seher Johannes: In für Christen sehr unbequemen Zeiten hat er gelebt. Und entsprechend unbequem sind seine Texte für uns heute. Und schwer verständlich.

Und doch hat der heutige Predigttext sehr viel mit dem Advent zu tun. Mit der Sehnsucht, dass unser Leben mehr sein soll als das, was wir im Alltag vor Augen haben. Mit der Hoffnung auf die Ankunft Gottes bei den Menschen.

Der Seher Johannes bekommt etwas zu sehen, das für uns normale Menschen verschlossen ist. Er bekommt die Vision des Himmels. Auf einem Thron sitzt einer, der ein Buch in der rechten Hand hält (V 1). Dieses Buch ist von innen und von außen beschrieben. Und das Buch ist gut verschnürt, so dass keiner es öffnen kann. Und damit nicht genug:

Die Verschnürung ist dazu noch versiegelt: So dass keiner es öffnen darf: außer dem, der die sieben Siegel darauf gedrückt hat. Was mag in dem Buch drinstehen, und was steht außen drauf? Hat es einen Titel mit Autorenangabe oder auf dem Rücken des Buches eine Kurzusammenfassung? Davon erfahren wir nichts.

Doch die Vision geht weiter: Ein „starker Engel“ fragt mit „lauter Stimme“ nach, wer denn würdig sei, diese sieben Siegel aufzubrechen. Aufbrechen der Siegel: Das heißt: Den Inhalt lesen zu dürfen, den Inhalt wissen zu dürfen, ja geradewegs zum Besitzer dieses Buches zu werden!

Und dann merkt Johannes: Niemand kann das Buch auftun und hineinsehen. Niemand ist würdig genug, es zu öffnen. Und mit „Niemand“ ist wirklich absolut gar niemand gemeint: Das meint die Wendung: „weder im Himmel, noch auf Erden, noch unter der Erde“. In der Denkweise der damaligen Welt: Weder himmlische Kreaturen, also Engel, noch die Menschen auf der Erde, noch die Dämonen und Schattenwesen der Unterwelt haben genug Würdigkeit, dieses Buch zu öffnen.

Und dann fängt der Seher Johannes an zu weinen.

Nachdem er das erfahren hat: Auch er gehört zu den Unwürdigen, zu denen, die das Buch nicht lesen dürfen. Er, der er doch schon so viel gezeigt bekommt! Er kann die Tränen nicht halten.

Vielleicht ist dieses Weinen gar nicht so unerwartet oder unpassend, wenn man sich klar macht, was Johannes da vor Augen hat. Na gut, ein Buch, in das man nicht rein sehen darf. Aber da fängt niemand an zu heulen! Auch damals nicht!

Der Seher merkte, dass dieses Buch mehr ist als andere Bücher. Er merkte: dieses Buch: das ist die Geschichte von allem. Es ist das Buch aller Zusammenhänge. In diesem Buch steht alle Weisheit und alles Wissen. In diesem Buch ist die Ganzheit des Universums und die Zerbrochenheit der Geschöpfe.

Das Buch ist auch dein Buch.

Hierin bist du mit allem, was dich kennzeichnet, verzeichnet.

Alles, was nötig ist, findest Du darin.

Aber du darfst es nicht lesen, darfst es nicht einmal öffnen, um darin zu blättern. Dabei umfasst das Buch das Gesamte Deines Lebens. Und Du merkst, dass du nicht hineinblicken kannst, nicht einmal darfst.

Woran liegt das?

Warum dürfen wir nicht hineinblicken?

Durch unsere Welt zieht sich ein Bruch.

Meist unsichtbar.

Mitunter ist dieser Bruch aber doch greifbar und spürbar.

Und dieser Bruch zieht sich nicht nur durch unsere Welt, sondern bisweilen auch durch unser Leben.

Durch die Art, wie wir miteinander umgehen.

Durch die Art, wie wir unser Leben bestreiten.

Dieser Bruch zieht sich durch unsere Kommunikation.

Durch unsere Beziehungen.

Durch unser Benehmen, wie wir nach außen hin auftreten und es wirklich in uns aussieht.

Durch unsere Welt geht ein Bruch, gehen viele Brüche, und viel zu oft scheint es, wir fänden uns damit ab.

Täglich geschieht Gewalt gegen Mitmenschen.

Dabei ist es ganz egal, wie diese Gewalt ausgeübt wird.

Ob mündlich oder tätlich.

Der Schmerz ist da und die Wunde heilt nur mäßig. Bisweilen wird es dann unerträglich und die angestauten Dinge entladen sich. Der Bruch wird sichtbar.

Schlimm wird es im Advent, besonders am ersten, denn dann wird der Bruch, in dem wir stehen, offenbar. Dann bemerken wir: nein, wir sind nicht würdig… wie schon der Seher Johannes! Und in die stolze, reiche, helle, und satte Welt kommt ein Kind. Klein verletzlich und auf den ersten Blick unbedeutend.

Es ist erstaunlich, dass wir uns jedes Jahr aufs Neue damit konfrontieren lassen. Denn dieses kleine Kind weist uns mit unglaublicher Leichtigkeit und Kraft auf unsere Gebrochenheit hin.

Den Advent wegwischen, die Botschaft dahinter, das würde manch einem gut gefallen. Wozu braucht man denn auch die zunächst niederschmetternde Botschaft von der Verletzlichkeit, wenn das keinen Kunden mehr ins neue Einkaufszentrum lockt?

Verzichten wir doch einfach auf das drum herum und geben uns ganz dem Konsum hin. Der Tannenbaum bleibt dann ja noch, auch die Geschenke bleiben.

Schade nur, dass der Tannenbaum gar nichts mit dem Inhalt des Festes zu tun hat und die Geschenke in unserer Zeit zum Selbstzweck geworden sind.

Ein Kind kommt auf die Welt und sagt ihr nicht den Kampf an.

Hier wird nicht gekämpft. Steck das Schwert weg, sagt das erwachsene Kind bald. Ein Kind kommt auf die Welt und erzählt den gebrochenen Menschen von der Liebe Gottes. Kostenlos, so sagt es, ist diese Liebe, frei verfügbar. Eine nie endende Kraftquelle, auf die keiner einen Besitzanspruch erheben kann, denn diese Liebe ist nicht gebunden an eine Institution oder an eine Macht, die verschwinden kann.

Last Christmasvon Wham! hat Stille Nacht, heilige Nacht, unter Jugendlichen und Menschen meines Alters beinahe abgelöst. So, wie es im Musikvideo gezeigt wird, das ist wohl für viele die das Idealbild von Weihnachten: Eine eingeschneite Berghütte, ein Mann mit gebrochenem Herzen und dann, unterm Baum die Versöhnung! Liebende wälzen sich im Pulverschnee. Freunde tragen Designerklamotten und sind alle fröhlich!

Das ist nicht Weihnachten, denn Weihnachten ist anders fröhlich und viel ehrlicher, aber auch schwieriger als ein Musikclip von 4 Min und 37 sec Länge.

Viele von uns stecken aber eher in dem Video von Wham! fest, wenn sie an Advent denken. Wer es anders macht, der ist ein Spielverderber!

Lasst uns froh und munter sein, aber nicht weiter darüber nachdenken, auf welcher Grundlage wir das tun sollen.

Es steht schlimm um uns, wenn einer mit guten Ideen verlacht wird und weil er sich den Luxus leistet, gegen den Strom zu schwimmen. Weihnachten steht aber genau dafür: Gegen den Strom.

Weihnachten bricht aus aus der bekannten Reihe, es ist kein heile-Welt-Musikvideo im Pulverschnee mit Pelzmütze. Hier geht es um die Bewusstmachung und Überwindung des Bruchs. Wegwischen kann man das nicht. Das fängt schon damit an, dass ein Kind die Erlösung bringen soll.

Ein Kind geboren unter Umständen wie sie heute wohl nur noch Menschen auf der Flucht erleben:

Keine Herberge, kein Quartier, ein zugiger Stall muss es sein.

Ein Kind auf dem Weg zu einem Kreuz.

Und wir?

Wir haben das verkitscht.

Gibt es denn eine Chance auf Heilung? fragt der Patient und der Doktor sagt: „Es gibt einen Riss in der Hoffnungslosigkeit!“

Froh horchen wir auf und erfahren: Wir könnten uns ja unserem Schicksal ergeben und den Advent und Weihnachten verflachen lassen, aber da ist so etwas wie Hoffnung auf Änderung, auch alle Jahre wieder, aber deswegen nicht weniger ehrlich!

Durch unsere Welt geht ein Bruch und „die Zerstörungen, die dem Leben angetan werden“, sind sehr groß. „Die Liebe, die zerbricht, die Freundschaft, die verraten wird, der Terror, der herrscht […], der Hunger, das Elend, die unendliche Not: das alles sind Belege dafür, es mit der Hoffnung zu lassen, … sich lieber zu ducken, um so vom Unglück zumindest nicht ganz getroffen zu werden.“

Und es ist schwer, all das auszuhalten ohne zu resignieren. Es ist schwer, nicht einzustimmen in das Weinen des Sehers Johannes:

Wir alle sind tatsächlich nicht würdig, das große Ganze zu schauen.

Wir alle würden daran zerbrechen.

„Es ist schwer, der Süße der Hoffnungslosigkeit nicht zu verfallen.“

Man muss nicht auf die Barrikaden, man braucht nicht aktiv zu werden.

Man kann auf der Couch sitzen bleiben, das Supertalent schauen und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen.

ZÄSUR

Wer aber Gott erwartet, sein Ankommen, dessen Hoffnungslosigkeit bekommt Sprünge.

In dessen Hoffnungslosigkeit treten Risse auf. Der setzt sich in Widerspruch zu den Erfahrungen der Vergeblichkeit und Unabänderlichkeit, denn die wären der Tod!

Wer sich auf das Kommen Jesu einlässt, der wird um einen Bruch nicht umhin kommen, aber das ist dann ein Bruch mit Aussicht auf Heilung, auf endgültige Besserung.

Das ist Advent. Zeit der Hoffnung. Zeit des Heils!

Und das ist es dann auch, was dem religiösen Genie Johannes auf sein Weinen in der Vision entgegnet wird:

Es hat einer dieses versiegelte Buch in Händen, der es öffnen darf, der würdig genug ist, der dies für dich öffnen wird, ja das längst getan hat.

Und der wird dir das Ganze zeigen und den Zusammenhang und den Sinn.

Und das ist Jesus Christus.

Amen.

Amen.

Und davor? Bevor ich das so erlebe?

Da mag uns in dieser Adventszeit ein Gedicht des künstlerischen Genies Joseph Beuys als Anleitung zum guten Leben dienen:

Joseph Beuys
Anleitung zum guten Leben

Lass dich fallen, lerne Schlangen zu beobachten.
Pflanze unmögliche Gärten.
Lade jemanden Gefährlichen zum Tee ein.
Mache kleine Zeichen, die „ja“ sagen
und verteile sie überall in deinem Haus.

Werde ein Freund von Freiheit und Unsicherheit.
Freue dich auf Träume.
Weine bei Kinofilmen.
Schaukle so hoch du kannst mit einer Schaukel bei Mondlicht.

Pflege verschiedene Stimmungen.
Verweigere dich, ‚verantwortlich zu sein‘ – tu es aus Liebe!
Mache eine Menge Nickerchen.
Gib Geld weiter. Mach es jetzt. Es wird folgen.
Glaube an Zauberei, lache eine Menge.
Bade im Mondschein.

Träume wilde, fantasievolle Träume.
Zeichne auf Wände.
Lies jeden Tag.
Stell dir vor, du wärst verzaubert.
Kichere mit Kindern, höre alten Leuten zu.
Öffne dich, tauche ein. Sei frei. Preise dich selbst.

Lass die Angst fallen, spiele mit allem.
Unterhalte das Kind in dir. Du bist unschuldig.
Baue eine Burg aus Decken. Werde nass. Umarme Bäume.
Schreibe Liebesbriefe …

Amen.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft,

bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft,

bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.